Rede von Dr. Inge Litschke anlässlich des ihr verliehenen „Dinslakener Pfennigs” am 28. April 2002

Dr. phil. Inge Litschke

Frau Bürgermeisterin,

sehr geehrte Vorstandsmitglieder des Vereins für Heimatpflege "Land Dinslaken",

meine Damen und Herren, liebe Heimatfreunde,

vor einigen Wochen teilte mir Herr Benninghoff mit, daß der Verein für Heimatpflege "Land Dinslaken" vorhabe, mich mit dem "Dinslakener Pfennig" auszuzeichnen. Diese Nachricht löste bei mir einen Strudel von Empfindungen aus. Zunächst waren da vollkommene Verwirrung und Überraschung. Mit einer solchen Ehrung hätte ich nie gerechnet, und ich selbst wäre nie auf mich als Auszuzeichnende gekommen.

In diese Verwirrung mischten sich bald Zweifel und die Angst, einer mit der Ehrung eventuell verbundenen Erwartungshaltung nicht gerecht werden zu können, zumal große Fußstapfen vor mir hergehen. Meine vier Vorgänger haben jeder auf seine Art Hervorragendes auf heimatkundlichem und heimatpflegerischem Gebiet geleistet. Ich erinnere an Kurt Altenas Einsatz für die Erhaltung der Hiesfelder Mühlen und den Auf- und Ausbau des Mühlenmuseums, an Fritz Endemanns unermüdliche Bemühungen für den Heimatgedanken und das Heimatmuseum in Hünxe, an die unzähligen heimatkundlichen Veröffentlichungen von Willi Dittgen. Selbst wenn ich von jetzt an bis an mein Lebensende ununterbrochen schriebe, könnte ich die Zahl, Vielfalt und Qualität seiner heimatkundlichen Beiträge nicht erreichen.

Ein ganz besonderes Anliegen ist es mir, heute an Elmar Sierp zu erinnern, den wir vorgestern zu Grabe getragen haben. Elmar Sierp war zu Recht der Erste, der mit dem "Dinslakener Pfennig" ausgezeichnet wurde. Er war es, der nach dem Krieg den Heimatgedanken in Dinslaken neu belebte und als Vorsitzender des Heimatvereins Dinslaken seine Zeit, Kraft und erhebliche persönliche Mittel sein Leben lang für die Ziele des Vereins einsetzte. Mit ihm ist eine ganze Ära zu Ende gegangen.

Zu Überraschung und Zweifeln kam aber bald große Freude über diese ehrenvolle Auszeichnung. Ich möchte mich daher beim Vorstand des Vereins für Heimatpflege "Land Dinslaken" für die Verleihung des "Dinslakener Pfennigs" und die damit zum Ausdruck gebrachte Anerkennung meiner heimatkundlichen Bemühungen herzlichst bedanken. Ich werde ihn in Ehren halten, diesen Pfennig. Gleichzeitig bedanke ich mich für die überaus freundlichen Worte, die Sie, Frau Bürgermeisterin, und Sie, lieber Herr Benninghoff und lieber Herr Bison, für mich gefunden haben. Besonders wichtig ist es mir, daß mit der Auszeichnung auch der oft negativ betrachtete und früher auch stiefmütterlich behandelte Stadtteil Lohberg eine öffentliche Wertschätzung erfährt.

Und hier ist er nun, der "Dinslakener Pfennig"! Nur ein Pfennig mag mancher vielleicht meinen. Wer so denken sollte, beachtet nicht, daß der zunächst silberne Pfennig über Jahrhunderte für den Lebensunterhalt der Menschen eine existentielle Bedeutung hatte. Während des ganzen Mittelalters war der silberne Pfennig als einzige Münzsorte im Umlauf. Es gab noch keine Groschen, Taler oder andere Münzen. Der Wert des Pfennigs war in der Münzordnung Karls des Großen auf 1/240 Pfund Silber festgelegt worden. Für größere Zahlungen brauchte man viele Pfennige. Sie wurden dann nicht gezählt, sondern gewogen. Auch der Dinslakener Pfennig war eine Silbermünze. Erst um etwa 1500 wurden in Böhmen größere Silbermünzen geprägt, die man nach dem Silberfundort Joachimsthal zunächst Joachimsthaler und später einfach Taler nannte. Als Zahlungsmittel verlor der Pfennig im Laufe der Jahrhunderte immer mehr an Bedeutung. Er wurde zum Kleingeld und zur Scheidemünze und schließlich ganz aus Kupfer geprägt. Inzwischen wurde er leider vom Cent abgelöst. Die Bedeutung des Pfennigs als Zahlungsmittel und als Synonym für Geld überhaupt ist uns allerdings in vielen Redensarten erhalten geblieben. Ich bezweifle, daß der Cent vom Volksmund einmal ähnlich gewürdigt werden wird. In Zitatensammlungen habe ich allein 25 Redewendungen über den Pfennig, aber nur fünf über die Mark gefunden. Einige der bekanntesten sind wohl: "Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert", "Auf den Pfennig sehen", "Jeden Pfennig zweimal umdrehen".

Wer wie ich in einem Bergarbeiterhaushalt aufgewachsen ist, der zudem ebenso wie viele andere Lohberger Haushalte über Jahre von Arbeitslosigkeit betroffen war, hat schon als Kind mitbekommen, daß jeder Pfennig wirklich zweimal umgedreht werden mußte, ehe man ihn ausgab. Und für manche für die Bildung und Ausbildung von Kindern notwendigen Auslagen, die uns heute selbstverständlich sind, waren die Pfennige einfach nicht da. So hatte ich wie viele Kinder in meiner Schulklasse im ersten Schuljahr zunächst keine Fibel. Die Schule verlieh Fibeln, und zwar immer ein Buch für zwei Kinder. Ich habe diese Fibel so gut wie nie in die Hand bekommen, weil das andere Mädchen sie nicht herausrückte. Als ich dann auch noch wegen Diphtherie, an der damals in Lohberg innerhalb von drei Jahren 41 Kinder starben, sechs Wochen fehlte, sollte ich sitzen bleiben. Ich konnte nicht lesen und hatte mich mit dem, was ich vom Hören auswendig wußte, durchgemogelt. Im Gegensatz zu heute wäre das Sitzenbleiben eine Schande für die ganze Familie gewesen. Meine Eltern kratzten die letzten Pfennige zusammen und kauften mir eine Fibel. Innerhalb kürzester Zeit lernte ich lesen. Eine neue Welt ging für mich auf. Mein Vater meldete mich in der Werksbücherei und bald auch in der Stadtbücherei in Dinslaken an. Hätte ich die Klasse wiederholen müssen, wäre möglicherweise mein ganzes Leben anders verlaufen. Denn nach solch einem Frustrationserlebnis hätte ich vier Jahre später sicherlich nicht gewagt, mir den Zugang zur Höheren Schule zu erkämpfen.

Im vierten Schuljahr wußte ich allerdings zunächst nicht, daß es außer meiner Lohberger Volksschule noch eine andere Schule gab. Eines Tages fehlten in meiner Klasse vier Mädchen, Töchter von Lohberger Einzelhändlern und von Zechenbeamten. Auf dem Schulhof hörte ich, daß diese Mädchen eine Aufnahmeprüfung für die Höhere Schule in Dinslaken machten, und dort könne man Lehrerin werden. Lehrerin, etwas für unerreichbar Gehaltenes, schien plötzlich möglich zu sein. Ich beschloß, das wollte ich auch, und überraschte mittags meine Eltern mit diesem Wunsch. Sie lehnten sofort strikt ab, hauptsächlich mit Kostenargumenten, zumal die Kinderschar inzwischen auf vier angewachsen war. Für meine Mutter kam noch ein anderer Einwand hinzu. Sie war sich sicher, daß man auf mich als Bergmannskind aus Lohberg verächtlich herabsehen würde. Als Kind hatte sie in Dinslaken gewohnt und war auf dem Schulweg regelmäßig an der "Töchterschule", wie die Schule in der Bevölkerung genannt wurde, vorbeigekommen. Die Mädchen dort hatte sie als sehr eingebildet empfunden. Damit war für meine Eltern das Thema erledigt.

Ich gab aber nicht auf und fragte am nächsten Tag meine Lehrerin, ob ich nicht auch in die Schule in Dinslaken gehen könne. Sie ließ meinen Vater kommen und riet ihm, sich bei der Oberschule für Mädchen, wie sie seit 1939 hieß, nach einer Freistelle zu erkundigen. Das tat er. Ich konnte die Aufnahmeprüfung nachträglich ablegen, bestand sie und erhielt eine Freistelle. Mit der waren aber längst nicht alle Kosten abgedeckt. Ich erinnere mich, wie schwer es meinen Eltern fiel, Bücher, Hefte, Turnzeug, Farbkasten, Zeichenkasten, Handarbeitszeug usw. zu kaufen. Für ein neues Kleid, das eine Frau aus der Kolonie nähte, spendete meine Oma den Stoff, den sie sich für ein Sonntagskleid gekauft hatte, einen dunkelblauen Omastoff, den die Frau mit einer Litze etwas kindgerechter aufpeppte. Ich hatte bald Freundinnen in der Klasse und lernte auch deren Eltern kennen. Von Vorbehalten meiner Lehrerinnen und Mitschülerinnen gegenüber mir, dem Bergarbeiterkind aus Lohberg, habe ich, sofern es sie überhaupt gab, nichts gespürt.

Etwa vier Jahre später schien sich die nächste finanzielle Hürde aufzubauen, privater Lateinunterricht, um nach der Mittleren Reife auf das Jungengymnasium überwechseln und dort das Abitur machen zu können. Ein voll ausgebautes Mädchengymnasium, das bis zum Abitur führte, gab es in Dinslaken erst ab Mitte der 50er Jahre. Aber zu meiner Überraschung fragte mein Vater nicht: "Was kostet das?", sondern "kannst du das?" Ich hatte keine Ahnung und sagte tapfer: "Wenn die anderen das können, kann ich das auch!" Ich durfte Lateinunterricht nehmen, habe dafür allerdings nie einen einzigen Pfennig gezahlt. Der Vater meiner besten Freundin, Herr Studienrat Nordsieck, erteilte den Unterricht. Er hat nie Geld von mir genommen. Aber das hatten mein Vater und ich, als er mir die Erlaubnis gab, nicht gewußt.

Eine besondere Freude bedeutet es für mich, daß die Verleihung des "Dinslakener Pfennigs" hier im Voswinckelshof stattfindet. Unsere Schule lag nämlich in unmittelbarer Nähe dieses Gebäudes, etwa 100 m Luftlinie von hier entfernt. Fast fünf Jahre lang kam ich zusammen mit meinen Lohberger Mitschülerinnen täglich auf dem Weg von der Straßenbahnhaltestelle am Neutor zur Schule dort an der Fensterseite vorbei, und einiges spielte sich hier auf dem Schulweg ab. Manchmal packte uns der Übermut. Wir fuhren bis zum Bahnhof - so weit reichte unsere Monatskarte - und stiegen dort in die Straßenbahn Richtung Duisburg um, die genau hier an der Ecke hielt. Es kam, wie es kommen mußte. Wir wurden erwischt. Das war so schrecklich und peinlich, aber auch pädagogisch so wirkungsvoll, daß ich in meinem ganzen Leben nie wieder schwarzgefahren bin.

Hier gegenüber zwischen Schloßstraße und Bachstraße holten wir auf Wunsch unserer Physiklehrerin Eis als Kühlmittel für die Herstellung von Speiseeis im Physikunterricht aus dem teilweise zugefrorenen Rotbach. Wir Lohberger Schülerinnen hatten eine Eismaschine und zerkleinertes Stangeneis aus dem Kasino Lohberg mitgebracht. Aber das Eis war dahingeschmolzen, ehe sich der auf dem Bunsenbrenner gekochte rosa Pudding in Eiscreme verwandelt hatte. Also füllten wir den Kühlzwischenraum der doppelwandigen Eismaschine mit dem Rotbacheis. Eisstücke und -krümel sprangen auf den Demonstrationstisch und wahrscheinlich auch in den Pudding, der sich nun in Eiscreme verwandelte. Das war zu einer Zeit, als noch die gesamte Altstadtkanalisation hier in den Rotbach ging, der schon belastet aus Hiesfeld ankam. Heute brächte das sämtliche Eltern auf die Barrikaden, hat uns aber vielleicht gegen Keime aller Art immunisiert.

Ebenfalls dicht bei diesem Gebäude saßen wir Schülerinnen der oberen Klassen im Herbst 1944 tagelang in der Lehrküche im Keller der damaligen Berufsschule - 100 m Luftlinie in die andere Richtung und schälten und würfelten Kartoffeln, mit denen Dinslakener Frauen dann in riesigen Kesseln Eintopfgerichte für die Soldaten an der Westfront kochten. So auch am 14. Oktober 1944, als Dinslaken den ersten schwereren Luftangriff erlitt, von dem besonders Hiesfeld betroffen war. Dort gab es 23 Tote. Aber auch auf Dinslaken selbst fielen Bomben. Die Berufsschule, in der wir saßen und Kartoffeln schälten, wurde von Brandbomben getroffen. Der Dachstuhl brannte. Wir schälten weiter Kartoffeln. Das Feuer wurde gelöscht. Wir schälten unentwegt weiter Kartoffeln. Bei diesem Angriff schlugen auch Brandbomben in unsere Mädchenschule ein. Das Zimmer der Direktorin und der Chemiesaal brannten aus.

Beim großen Luftangriff am 23. März 1945 wurde unsere Schule dann bis auf ein paar Außenmauern vollkommen zerstört, ebenso wie das Jungengymnasium. Wir Mädchen hatten für kurze Zeit Unterricht in der Elisabethschule an der Kleiststraße, bis die Stadt das Schulgebäude der Schuhfabrik Hoffmann zur Verfügung stellte. Von da an mußten wir uns die auf dem Schulhof des Jungengymnasiums aufgestellten Baracken mit der Jungenschule im wöchentlichen Wechsel von Vor- und Nachmittagsunterricht teilen. Nach der Mittleren Reife 1947 war also beim Übergang auf das Jungengymnasium, an dem ich 1950 die Abiturprüfung bestand, keine räumliche Veränderung erforderlich.

Die Aufnahme des Studiums scheiterte an den fehlenden finanziellen Mitteln, an den Pfennigen also. Meine Waisenrente war bei Vollendung des 18. Lebensjahres eingestellt worden. Ich hatte schon das Abitur nur deshalb erreicht, weil ich ständig Nachhilfestunden erteilte, um meinen Lebensunterhalt zu finanzieren.

Ich wurde also berufstätig. Während meiner Arbeit als Sekretärin auf der Zeche Lohberg war ich beeindruckt von der Aufbruchstimmung, die beim Bergbau herrschte. Die Wirtschaft boomte und schrie nach Kohle, dem damals wichtigsten Primärenergieträger. Der Bergbau boomte ebenfalls. Sonntags wurden Sonderschichten für den Wiederaufbau Deutschlands verfahren. Dann traten der gesamte Untertage- und Übertagebetrieb geschlossen an, auch ich. Die Bergleute verdienten gut, und zum ersten Mal mußte nicht mehr jeder Pfennig zweimal umgedreht werden.

Auf Lohberg hatte ich dann die ersten Kontakte mit dem Verein, der mir heute diese Ehrung bereitet. Er hieß damals "Verein für Heimatkunde und Verkehr, Kreis Dinslaken". Seinen jetzigen Namen erhielt er nach der Auflösung des alten Kreises Dinslaken. Viele Besprechungen und Vorstandssitzungen fanden auf Lohberg statt. Mein Chef lud dazu ein. Ich schrieb die Einladungen und warf sie auf dem Nachhauseweg in Lohberg bei der Post ein, weil Dr. Hoffmann die Einladungen immer in letzter Minute diktierte und die Beförderung mit der Werkspost über die Verwaltung in Hamborn zu lange dauerte.

So machte ich es auch an einem späten Samstagnachmittag im Frühjahr 1955. Eigentlich hätte ich um 13.00 Uhr Feierabend gehabt. Aber mein Chef hatte ein etwas gestörtes Verhältnis zur Arbeitszeit seiner Angestellten. Abends, mein Mann hatte Mittagschicht, schellte ein Berglehrling, den der Heimleiter des Pestalozzidorfs geschickt hatte. Ich möge sofort vom Pestalozzidorf aus Herrn Dr. Hoffmann anrufen. Es sei furchtbar wichtig. Wir hatten gerade unser Siedlungshaus in Hiesfeld in der Nähe des Pestalozzidorfs bezogen. Mein Werkstelefonanschluß war noch nicht von Lohberg nach Hiesfeld verlegt worden. Ich hatte einen Kuchen im Backofen und wartete die Backzeit ab. Da kam schon der nächste Berglehrling. Ich wartete weiter auf meinen Kuchen und machte mich dann auf den Weg. Unsere Straße "Auf dem Loh" ist heute asphaltiert und beleuchtet und geht in einen gepflasterten Weg zum Pestalozzidorf über. Damals am Ende der Bauzeit war da nur Buckelpiste und Acker. Es war stockdunkel, ich stolperte über den Acker und fiel hin, zerriß ich mir meine Nylonstrümpfe und schlug mir die Knie auf. Schmutzig und blutend kam ich im Pestalozzidorf an und telefonierte. Als ich dann die angeblich so wichtige Frage hörte, explodierte ich. Sie lautete nämlich: "Haben Sie die Einladungen für die Sitzung des Vereins für Heimatkunde und Verkehr bei der Post eingeworfen?" Es war das erste und einzige Mal, daß ich mit meinem Chef ernsthaft aneinandergeriet. Und hätte es in dem Augenblick in meiner Macht gelegen, dann hätte ich den Verein abgeschafft. Aber dann hätte ich heute nicht diesen ehrenvollen "Dinslakener Pfennig" bekommen können, den Sie, meine Herren Vorstandsmitglieder, mir nach dieser Beichte hoffentlich nicht wieder aberkennen werden.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.