Aufsätze und Vorträge

Datum:

Februar 2003

Autor:

Friedrich Endemann

Bis Anfang des 19. Jh. gab es in den großen zusammenhängenden Wäldern rund um Hünxe Wölfe, die unter dem Viehbestand der Einwohner großen Schaden anrichteten. Der Wolf war sehr gefürchtet. Kam die Nachricht, dass in der Umgebung ein Wolf gesichtet worden war, so bangte jeder um sein Vieh. Das auch mit Recht, denn wenn der Wolf heute im Dämmerwald gesehen wurde, konnte er am nächsten Tag schon in Hünxe sein Unwesen treiben.

Aus den Geschichtsquellen der damaligen Zeit können wir über mehrere Jahrhunderte entnehmen, dass immer wieder Wölfe auftraten und Schafe, Rinder oder Kühe von ihnen gerissen wurden. 1583 heißt es, der "griese Hond", der Wolf, hat sich wieder stark vermehrt.

Sobald in einem Bezirk ein Wolf aufgespürt wurde, ordnete die zuständige Behörde die Wolfsjagd an. Hierzu wurde durch Glockenschlag - Läuten der Kirchenglocken - aufgefordert. In Hünxe gab es eine besondere Wolfstrommel, eine große Trommel, mit der der Bauernbote von Haus zu Haus zog und zur Wolfsjagd aufrief. Jeder Untertan war verpflichtet, an der Wolfsjagd teilzunehmen. Nichterscheinen wurde mit Strafe belegt. Befreit waren lediglich die Bauernmeister, die Schöffen, die Geistlichen und die Adeligen.

Bei der Jagd wurde das Gebiet, in dem man den Wolf vermutete, mit Netzen - wie das unsere - abgeschirmt und von Treibern und Schützen umstellt. Mit lautem Geschrei und Getöse durchkämmten sodann die Treiber das Gebiet und versuchten den Wolf in die Netze zu treiben, wo er dann von den Schützen erlegt werden konnte.

Wurde in Hünxe ein Wolf erlegt, so wurde nach einer Legende das tote Tier im Triumphzug durch das Dorf getragen und an der Dorflinde gegenüber der Kirche einige Tage zur Schau aufgehängt.

Die letzten Wolfsjagden

1797 wurden in den Wäldern südlich der Lippe wiederum Wölfe festgestellt und für den 17. Mai des Jahres eine große Wolfsjagd angeordnet. In der Anordnung zu dieser Jagd heißt es unter anderem:

"Die Untertanen werden die Linie vom Weg am großen Aschenbruch, wo die Wolfsnetze gestellt werden, bis an der roten Beeke besetzen. Auf ihrem Weg dorthin werden sie die Büsche durchgehen und so den Wolf, wenn er da ist, herüberjagen. Alles muss so dirigiert werden, dass am 17. Mai, 9 Uhr vormittags, die vorgenannte Linie besetzt ist und das Haupttreiben seinen Anfang nehmen kann. Ist die Anzahl der Jagdleute so groß, dass die Kirchhellensche Division an den linken Flügel der Gahlener Leute sich anschließend vorwärts nach dem Aschenbruch zu einer Linie bilden könnte, so wäre dieses sehr gut. Die Gahlener Jagdleute sind gehalten, die Spitze des Hünxerwaldes von Gallien an soweit abzutreiben, bis sie den linken Flügel der Hünxer und Gartroper Jagdleute erreicht haben. Haben die Gahlener diesen Flügel erreicht, so machen sie Halt bis auf weitere Order. Die Jäger laden ihre Flinten nur mit grobem Schrot, nicht mit Kugeln, um zu verhüten, dass ein Mensch von einer Kugel getroffen werde. Auch dürfen die hiesigen Treiber keine Schießgeräte mitbringen, sondern nur mit Heugabeln bewaffnet erscheinen."

Bei dieser Jagd wurde kein Wolf gesehen!

Schließlich fand am 26. September 1826 im Hünxer-, Gartroper- und Gahlenerwald südlich der Lippe und im Weseler- und Dämmerwald nördlich der Lippe eine letzte gemeinsame große Wolfsjagd statt, „in der Hoffnung, wenn der Wolf in einem Revier entkomme, er im anderen doch noch erlegt werden könne."

Bei dieser Jagd wurde im Hünxerwald ein Wolf gesehen und angeschossen. Er entkam jedoch über die Lippe. Am gleichen Tage wurde er in der benachbarten Bürgermeisterei Altschermbeck angetroffen. Er durchbrach die Linie der Treiber und konnte in die Waldungen bei Lembeck flüchten, wo er von den dort aufgestellten Schützen erlegt wurde.

Danach kam die befreiende Nachricht:

"Der Wolf ist tot"
Er war nun ausgerottet.

Das Hünxer Wolfsnetz ist offenbar das letzte Zeugnis dieser hohen Jagd, das am Niederrhein noch vorhanden ist - ein kostbarer Schatz aus vergangener Zeit.

Wie alt mag unser Wolfsnetz wohl sein?

Wir wissen es nicht. Es ist aber sicherlich aus dem 16. oder 17. Jahrhundert.

Der Hünxer Pfarrer, Hermann Sander, schreibt hierzu in "Blätter zur Geschichte der Kirchengemeinde Hünxe" 1909 folgendes:

"Die Wolfstrommel ist heute nicht mehr vorhanden, wohl aber das schwere, große und starke Wolfsnetz; es mag wohl 300 bis 400 Jahre alt sein."

Einen Hinweis gibt es im Archiv von Schloss Gartrop. Am 17. Mai 1664 wurde zwischen den Inhabern der adeligen Häuser Krudenburg und Gartrop, Alexander Graf von Vehlen und Albert Gisbert von Hüchtenbruck, ein "Receß über Jurisdiktions-, Gemarkungs- und Jagdsachen" abgeschlossen.

Dort heißt es unter anderem:

"Wegen der Wolfsjagden wollen sich die Häuser Krudenburg und Gartrop bemühen, dass von den Eingesessenen eines jeden Gerichtes Wolfsgarne nach Größe der Matricel gemacht werden."

Ob unser Wolfsnetz aus dieser Zeit stammt? Es könnte möglich sein, beweisen können wir es nicht.

Wo war unser Wolfsnetz bisher untergebracht?

Bis 1847 war das Wolfsnetz im "Spritzenhaus", dem Feuerwehrgerätehaus der Gemeinde Hünxe, untergebracht. Das "Spritzenhaus" stand auf dem Zufahrtsweg zu dem damals neu angelegten Friedhof der Ev. Kirchengemeinde Hünxe und musste deshalb abgebrochen werden. Die Feuerschutzgeräte und das Wolfsnetz wurden danach vorübergehend, so heißt es in den Unterlagen, im Turm der Dorfkirche untergebracht. Die Feuerschutzgeräte wurden später in dem neuen Feuerwehrgerätehaus gelagert, das Wolfsnetz aber verblieb im Kirchturm bis zur grundlegenden Restaurierung der Dorfkirche in den 1990er Jahren.

Nach der Neugestaltung der Eingangshalle des Rathauses hat das Wolfsnetz nun hier seit 2002 eine endgültige "Bleibe" gefunden.

Quellen:

  • Hermann Sander: "Blätter für Geschichte der Kirchengemeinde Hünxe", Heft 2, Seite 54, Voerde 1909
  • Walter Neuse: "Wolfsjagd mit Netzen und Lappen", Heimatkalender für den Kreis Dinslaken, 1960, 5. 57 ff.
  • Heinrich Krusdick: "Wildschweine und Wölfe im Kreise Rees", Heimatkalender für den Kreis Rees, 1957, S. 33 ff.
  • Verschiedene Urkunden und Akten des Schlossarchivs Gartrop, als Depositum beim Gemeindearchiv Hünxe.
  • Friedrich Sander: Aufzeichnung über "Die Hünxer Waldmark", 1970, korrigiert von Prof. Dr. Rudolf Stampfuß, unveröffentlicht, Archiv des Heimatmuseums Hünxe

Text: Friedrich Endemann, Heimat- und Verkehrsverein Hünxe e.V., Februar 2003

Anlass:

60 Jahre Friedenskirche in Dinslaken

Datum:

Mai 2021

Ort:

Friedenskirche an der Rotbachstraße in Dinslaken

Autor:

Pfarrer i.R. Sepp Aschenbach

In diesem Jahr wird die Friedenskirche 60 Jahre alt. Für eine Kirche eigentlich kein hohes Alter.

Vor einigen Jahren gab es noch Menschen in Eppinghoven, die sich daran erinnerten, dass an der Rotbachstraße noch Kartoffeln wuchsen und es keine Friedenskirche gab. Und doch, wenn wir zurückschauen, werden wir dankbar für das, was Gott uns in 60 Jahren mit unserer Friedenskirche geschenkt hat.

Hier wurden weit über 2060 Kinder getauft und noch mehr Jugendliche konfirmiert. Ehepaare gaben sich hier das Jawort. Unzählige haben hier Trost und Zuspruch gefunden. Im Vergleich zur Stadtkirche oder zum Betsaal Bruch ist die Friedenskirche eine der neuen Kirchen unserer Gemeinde, nach dem Krieg gebaut, ganz aus Beton und Glas. Damals wurden innerhalb von 15 Jahren in unserer Gemeinde vier Kirchen und das neue große Krankenhaus gebaut. Lohberg, Erlöserkirche, Friedenskirche, Christuskirche.

Ich gehe zurück in die Geschichte unserer Gemeinde:

Nach der Gründung der lutherischen und reformierten Gemeinde im Jahr 1611 spielte sich das Leben der beiden evangelischen Gemeinden in der heutigen Innenstadt ab. In der lutherischen Gasthauskirche und der reformierten, der heutigen Stadtkirche. 1818 schlossen sich die beiden Gemeinden zu einer vereinigten (unierten) Kirchengemeinde zusammen. Die alte baufällige Gasthauskirche der Lutheraner wurde abgerissen. Zweihundert Jahre lang hatte sie immer wieder neue Reparaturkosten verursacht. Man hätte mit dem Geld eine neue Kirche bauen können. Gemeindeleben gab es dann 100 Jahre nur in der heutigen Stadtkirche.

Durch die Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert und die die starke Besiedelung der Feldmark entstand ein zweiter Gemeindebezirk, der Bezirk Bruch. Ein zweites Gemeindezentrum musste gebaut werden.

1914 wurde begonnen und erst 1920, nach dem 1. Weltkrieg, konnte es eingeweiht werden. Neben der Stadtkirche gab es jetzt den Betsaal Bruch.

Doch der Stadtbezirk wuchs weiter, vor allem dann durch die vielen Ostvertriebenen nach dem 2. Weltkrieg. 1956 war der Stadtbezirk auf 8.000 Gemeindeglieder angewachsen. Das Presbyterium beschloss 1956, im Westen der Stadt, jenseits der B 8 und im angrenzenden Teil der Stadt Walsum, einen Neuen Gemeindebezirk zu bilden. Ein neues Gemeindezentrum wurde geplant. Pfarrhaus, Kirche, Kindergarten und Gemeindehaus sollten dazu gehören. Die Luftaufnahme aus dem Jahr 1952 zeigt, dass es in dem Gebiet westlich der B 8 kaum eine Bebauung gab.

Die Hagenschule, das heutige OHG, die Hl. Blut Kirche und auch die Ernst- Moritz- Arndt- Straße gab es noch nicht. Wo heute die Ernst- Moritz- Arndt- Straße verläuft, war noch freies Feld.

Unser früherer Kirchmeister Helmut van Staa, der an der Hagenstraße wohnte, damals am Rand der Stadt, erinnerte sich: von seiner Wohnung konnte er noch bis zum Wohnungswald sehen. 1958 gab es einen neuen Bebauungsplan der Stadt für den neuen Stadtbezirk Hagen/ Bruch. Unser Bild zeigt das Modell des damals geplanten neuen Stadtteils. Hier tauchte zum ersten Mal die projektierte EMA-Straße auf, die es vorher nicht gab. Flächen für die zwei neue Kirchen, eine Katholische und eine Evangelische wurden ausgewiesen. Nach und nach ging die Bebauung voran.

An der Hagenstraße, bisher am Rande der städtischen Bebauung, entstand der erste Bauabschnitt der Hagenschule. Die Schüler aus dem neu sich entwickelnden Wohngebiet sollten nicht mehr über die gefährliche B 8 zu den Schulen in die Innenstadt gehen müssen.

Für die evangelischen Christen aus dem Bezirk Hagen/ Bruch wie aus dem Bereich Walsum/Eppinghoven war ein Gemeindezentrum vorgesehen. Ein Architektenwettbewerb wurde ausgeschrieben. Fünf Entwürfe wurden eingereicht. Einer war sehr interessant: Der Architekt wollte das Wasser des Rotbachs als Gräfte um die Kirche herumleiten.

Das Presbyterium aber entschied sich für den realistischeren Entwurf des Architekten Günter Wiebe aus Düsseldorf. Er umfasste Kirche, Pfarrhaus, Kindergarten und Gemeindehaus. Beton und Glas dominierten bei diesem Entwurf. Die Bauarbeiten begannen schon recht bald. 1959 war das Pfarrhaus fertiggesteilt. Superintendent Brinkmann, seit 1934 Pfarrer der Stadtkirche, zog in das neue Pfarrhaus ein und begann mit der Aufbauarbeit im neuen Pfarrbezirk. Damit war der Weg zur Entstehung des Bezirks Friedenskirche im fast ganz katholischen Eppinghoven beschritten. Nur 1600 Gemeindeglieder gehörten anfangs zu dem neuen Bezirk. Die Gottesdienste und Veranstaltungen fanden zunächst noch weiter in der Stadtkirche und im Gemeindehaus an der Duisburger Straße statt.

Doch ein Jahr später begann man mit dem Bau der Friedenskirche an der Rotbachstraße, damals noch auf dem Gebiet der Stadt Walsum. Am 2. Juli 1960 konnte Superintendent Brinkmann den Grundstein legen. Es entstand eine Kirche in Form eines Zeltdaches, gehalten durch 12 miteinander verschraubte Peiner-Träger.

In der Urkunde zur Grundsteinlegung, deren Duplikat sich heute in der Sakristei befindet, heißt es:

"Das Presbyterium erhofft und erbittet von Gott, dass dieser Bau der Sammlung der Gemeinde Jesu Christi und der rechten Verkündigung des Evangeliums dienen möge.... Das Gotteshaus soll den Namen FRIEDENSKIRCHE tragen. Der Grundstein trägt die Inschrift: Ich will Frieden geben an diesem Ort, spricht der Herr Zebaoth. Haggai 2,9"

Fünfzehn Jahre nach Beendigung des Krieges wollte das Presbyterium mit dem Namen der neuen Kirche darauf hinweisen, dass Gott uns in einer friedlosen Welt seinen Frieden schenkt und dass wir aufgerufen sind, für den Frieden zu beten und für den Frieden einzutreten.

Nach etwa einjähriger Bauzeit war die neue Kirche fertig. Sie wurde am 16. April 1961 von Landeskirchenrat Nieland eingeweiht. Aus Kosten-gründen hatte man zunächst auf Turm und Orgel verzichtet. Ein asthmatisches Harmonium begleitete den Gesang.

Doch mit großer Freude wurde die Gemeindearbeit in der neuen Kirche und dem einen Gemeinderaum, dem sogen. „Schlauch“, aufgenommen. Ältere Gemeindeglieder berichten, dass diese Zeit trotz aller Enge eine schöne Zeit war. Größere Veranstaltungen, Weihnachtsfeiern usw. fanden in den kommenden Jahren weiterhin im Gemeindehaus an der Duisburger Straße statt.

Die Zahl der Gemeindeglieder wuchs. Durch Beschluss der Kirchenleitung kamen 1962 die evangelischen Bewohner Eppinghovens, die kommunal zu Voerde und kirchlich zu Götterswickerhamm gehörten, zum Bezirk Friedenskirche hinzu. Für sie wurde dadurch die Teilnahme am kirchlichen wesentlich erleichtert. Die wenigen Konfirmanden mussten zum Unterricht und zum Gottesdienst nicht mehr nach Götterswickerhamm. Pfarrer Petri kam einmal im Monat zur Frauenhilfe in einem Wohnzimmer nach Eppinghoven.

Auch der Teil des Pfarrbezirks Bruch, der westlich der Eisenbahnlinie Dinslaken - Wesel lag, kam zur Friedenskirche. Durch diese Maßnahmen und durch die fortgesetzte Bautätigkeit stieg die Gemeindegliederzahl weiter.

Die Hagenschule und die Hl. Blut Kirche

In diesen Jahren entstanden weitere Gebäude, die für die Bewohner des neuen Wohngebiets wichtig waren.

Am 13. April 1961, wenige Tage vor der Einweihung der Friedenskirche, wurde der erste Bauabschnitt der Hagenschule fertig. Das hintere Gebäude zur Gneisenaustraße hin.

Im Januar 1961 waren mit gleichem Datum die Genehmigungen für gleich drei Schulen in dem neuen Gebäude erteilt worden: für die evangelische Volksschule an der Hagenstraße, die katholische Volksschule an der Hagenstraße und die Gemeinschaftsschule an der Hagenstraße.

Wie das damals gegangen ist, Schüler dreier Schulen in einem Gebäude mit sieben Klassenräumen, war schon kurios. Alle drei Schulen waren ja keine Grundschulen, sondern traditionelle Volksschulen mit acht Jahrgängen, mit Kindern von 6 bis 14 Jahren.

Die Räume wurden unter die drei Systeme verteilt. Die katholische Schule erhält im Souterrain vier Klassenzimmer (für 151 Kinder), die evangelische Schule (80 Kinder) und die Gemeinschaftsschule 52 Kinder) im 1. Obergeschoss je ein Klassenzimmer. Ein drittes Klassenzimmer wird von der evangelischen und Gemeinschaftsschule gemeinsam benutzt.

Für alle drei Schulen gab es Eltern, denen gerade ihre Schule besonders wichtig war. Es gab Streit mit Presseartikeln und Unterschriftenaktionen, manchmal schon sehr heftig!

Ein Jahr später gab es für die Gemeinschaftsschule ein zweites Gebäude, und 1967 für die Evangelischen Volksschule ein drittes Gebäude an der Helenenstraße.

1967 wurden in der BRD alle Volksschulen in Grund- und Hauptschulen umgewandelt. 1974 wurde aus den drei Schulen an der Hagenstraße eine Gemeinschaftsgrundschule -unsere heutige Hagenschule.

Immer noch konkurrierte man mit der erhalten gebliebenen katholische Grundschule in Eppinghoven. Auch hier gab es noch einige Jahre Auseinandersetzungen: mit Pressartikeln und Unterschriftenlisten. Evangelische Eltern aus Eppinghoven meldeten ihre Kinder bei bekannten Familien im Hagenbezirk an, damit ihre Kinder die Hagenschule besuchen konnten und nicht nach Eppinghoven mussten.

1983 wurde dann die Schule in Eppinghoven geschlossen Es gab nur noch die Hagenschule. Die Schülerzahl in Eppinghoven war zu gering. Für die Eppinghovener Kinder gab es einen Schulbus. Über seine Fahrtroute wird zurzeit wieder diskutiert.

1965 wurde dann für die Katholischen Bewohner des Bezirks Hagen/ Bruch die Hl. Blut Kirche gebaut. Sie wurde durch Bischof Höffner aus Münster geweiht. Die Kirche ein eigenwilliges Gebäude aus rechteckigen Baukörpern, wurde von dem Dinslakener Architekten Heinz Buchmann entworfen. Pfarrhaus, Kindergarten und Pfarrheim kamen nacheinander hinzu.

Unter dem ersten Pfarrer Heinrich Küsters und seinem Nachfolger Theo van Doornick entwickelte sich ein sehr intensives und lebendiges Gemeindeleben. Ökumenische Kontakte und Aktivitäten entstanden, wie auch zur katholischen Gemeinde in Eppinghoven.

Leider wurde die erfreuliche Entwicklung des Gemeindelebens und vieler Aktivitäten durch den Abriss der Hl. Blut Kirche im Jahre 2008 beendet, nach nur 43 Jahren. Ein schmerzlicher Einschnitt für die katholischen Christen, die eigentlich dabei waren zu einer Gemeinde zusammenzuwachsen. Ein schmerzlicher Einschnitt aber auch für die ökumenische Zusammenarbeit, ein Verlust für den ganzen Stadtteil.

Doch nun wieder zur Friedenskirche:

Inzwischen war es im Dezember 1961 unter der Leitung der Pfarrfrau Jo Brinkmann zur Gründung einer Frauenhilfe gekommen. Im November 1964 konstituierte sich ein Abendkreis der Frauenhilfe. Ebenfalls 1964 taten sich sangesfreudige Gemeindeglieder zu einem Chor zusammen, um zur Gestaltung gottesdienstlicher Feiern beizutragen; geleitet von Diakon Otto. So waren die ersten selbständigen Gruppen entstanden, die lange fester Bestandteil des Gemeindelebens im Bezirk waren.

Am 16. Juli 1965 trat Pfarrer Brinkmann nach 31-jährigem Wirken in Dinslaken (davon sechs Jahre an der Friedenskirche) in den Ruhestand. Sein Nachfolger wurde der vorher in Drevenack tätige Pfarrer Gerd Nordmeyer. Er wurde im September 1965 von Superintendent Arnolds in sein Amt eingeführt.

Zu seinen Aufgaben im ersten Jahr seiner Tätigkeit gehörte die Sorge um den Bau des neuen Kindergartens an der Rotbachstraße. Durch den starken Zuzug und das Anwachsen der Gemeindegliederzahl war die Errichtung eines Kindergartens im Bezirk notwendig geworden. Am 1. März 1966 war es dann soweit, dass der Kindergarten zunächst für 60, wenige Wochen später für 90 Kinder seinen Dienst aufnehmen konnte.

Besonders erwähnt sei hier die ehrenamtliche Tätigkeit von Frau Heta Cordes, der Ehefrau von Professor Cordes, die die Arbeit des Kinder-gartens bis zu ihrem Tod 1881 begleitet hat.

Nur wenige Tage nach der Eröffnung des Kindergartens wurde am 13. März 1966 auch die neue Orgel der Friedenskirche fertig. Das alte Harmonium, das fünf Jahre lang den Gemeindegesang begleitet hatte, wurde durch eine schöne Orgel ersetzt. Die Orgel der Firma Führer aus Wilhelmshaven hat 20 Register und fügt sich klanglich und auch optisch gut in den Kirchraum ein.

1967 – dann ein weiteres größeres Bauprojekt im Bezirk Hagen-Bruch. Im Beisein von Prof Otto Hahn wurde das neue Gymnasium an der Hagenstraße eingeweiht. Damals ein mathematisch naturwissenschaftliches Gymnasium. Lehrer vom Theodor-Heuss-Gymnasium bildeten das erste Kollegium. Viele Jugendliche aus unserem Bezirk besuchten das Gymnasium. Eine Verbindung zu Friedenskirche gab es durch regel-mäßige Schulgottesdienste im Laufe des Jahres; ebenso durch den Religionsunterricht. 10 Jahre habe ich am OHG unterrichtet und gehörte zum Kollegium. Viele Konfirmanden kannte ich aus dem RU als sie in den KU kamen.

Ein weiteres großes Bauprojekt im Bezirk (nach Pfarrhaus, Kirchen und Kindergarten) war dann die Errichtung des Gemeindehauses 1969. Der eine Raum hinter der Kirche war für das anwachsende Gemeindeleben zu klein geworden. Die Errichtung des vorgesehenen Gemeindehauses wurde erforderlich. Im Juni 1969 konnte das von dem Dinslakener Architekten Paul Neuhaus entworfene Gemeindehaus in Dienst genommen werden; ein einfacher, nicht schöner aber zweckmäßiger Bau.

Damit erhielten alle Gruppen und Kreise ein für ihre Arbeit geeignetes Haus. Auch die Küsterwohnung und eine Schwesternwohnung fanden in dem Gemeindehaus Platz.

Seitdem treffen sich die Kreise und Gruppen des Bezirks im Gemeindehaus. In den 1990er Jahren waren es fast dreißig. Es ist, wie von Pfarrer Nordmeyer und den Presbytern beabsichtigt, eine "Stätte der Begegnung mit Gott und dem Nächsten" geworden.

Neben Frauenkreisen und Kirchenchor waren auch Jugendgruppen entstanden, die dem CVJM angeschlossen waren. Der CVJM verstand sich seit seiner Gründung immer als Jugendarbeit in unserer Gemeinde. 12 Pfarrinnen und Pfarrer und eine Reihe Kirchlicher Mitarbeiter, Presbyterinnen und Presbyter sind aus dieser Arbeit hervorgegangen.

Die Jugendarbeit ging zurück. Ein trauriges Ereignis dann: die Auflösung des CVJM nach über 90 Jahren.

Die erste ökumenische Initiative in unserem überwiegend katholisch geprägten Wohngebiet waren dann die Weltgebetstags-Gottesdienste. Sie werden seit 1972 mit den Katholischen Frauen aus Hl. Blut und St. Johannes gefeiert. Wichtige Themen von Frauen aus der weltweiten Kirche stehen im Zentrum dieser Gottesdienste.

Ein trauriges Ereignis war der Brand der erst acht Jahre alten Orgel am 16. Juni 1974. Ein Teil der Orgel wurde dabei zerstört, konnte aber erneuert werden. Sachverständige versicherten, der Klang sei unverändert gut.

Neben Frauenhilfe und Abendkreis entstand 1976 eine weitere, dritte Frauengruppe, zu der Kindergartenmütter eingeladen wurden. Dieser Kreis, er nennt sich Gesprächskreis, konnte vor allem in letzter Zeit wieder ein stetes Anwachsen verzeichnen. Er wurde lange von meiner Frau geleitet. Vor zwei Jahren übernahmen Gabi Tackenberg und Otti Blotenberg die Leitung. Etwa 30 Frauen gehören heute dazu.

Im Oktober 1976 ging Pfarrer Nordmeyer nach elfjähriger Tätigkeit in den Ruhestand. Die Pfarrstelle wurde im September 1977 nach fast einjähriger Vakanz im September Pfarrer Sepp Aschenbach wieder besetzt. Doch blieb das Ehepaar Nordmeyer als Prediger, bzw. als Leiterin der Frauenhilfe im Bezirk zu Hause. Noch mehrere Jahre nach dem Tod ihres Ehemannes (bis 1989) leitete Frau Nordmeyer die Frauenhilfe. Unser Bild zeigt Frau Nordmeyer bei der Feier ihres 80. Geburtstages.

Auch in den folgenden Jahren ist das Gemeindeleben weitergewachsen. Eine Reihe von Gruppen kam hinzu:

1978 entstand der Bibelkreis unter der Bezeichnung „Glaube im Gespräch“.

1979 entstand durch die Initiative von Reinhold Matzko der Bläserkreis. Über zwanzig Jahre leitete er ehrenamtlich diesen Kreis. Unsere Gemeinde hat ihm viel zu verdanken.

1982 kam es zur Gründung des äußerst aktiven Seniorenkreises unter der Leitung der unvergessenen Liesel van Laak und ihren Helferinnen; Elisabeth Liebig und Katharina Scholz.

Nach dem Bau des Seniorenzentrums an der Voerder Straße, aber auch durch die Veränderung der Altersstruktur wurde die Gründung eines Seniorenkreises erforderlich. Die Zahl der Senioren hatte sich in fünf Jahren, 1978- 1983, fast verdreifacht. Heute liegt die Zahl bei 450.

Von vornherein gab es hier ein gutes Miteinander mit dem "Wilhelm-Lantermann-Haus"` Seit l982 gab es dort alle zwei Wochen sonntags einen Frühgottesdienst. Mitarbeiterinnen des Seniorenkreises übernahmen den Besuchsdienst im Lantermann-Haus. Zu den Mitarbeitern des Hauses entwickelte sich ein gutes und vertrauensvolles Verhältnis. Unser Chor war dort ein gern gesehener Gast.

Im Jahr 1982 verstärkte sich auf Initiative von Professor Walter Cordes der Wunsch nach einem Glockenturm für die Friedenskirche. Nach Auskunft des Landeskirchenamtes aber durften für Turm und Glocken keine Kirchensteuermittel verwendet werden. So blieb nur die Möglichkeit, durch Spenden das Projekt zu verwirklichen. Diese Spendenaktion hat die Gemeinde zusammengebracht.

Nach zwei Gemeindeversammlungen und lebhaften Diskussionen im September 1983 der Turm, eine einfache Stahlkonstruktion, in Auftrag gegeben und die drei Glocken in der Glockengießerei Rincker in Sinn gegossen werden. Für viele Mitarbeiter bleibt der Glockenguss am 4. Dezember 1983 ein unvergessliches Erlebnis. Am 8. Januar 1984 war es dann soweit, dass Turm und Glocken in einem festlichen Gottesdienst in Dienst genommen werden konnten.

Damit fand die Errichtung des Gemeindezentrums (mit Pfarrhaus, Kirche, Kindergarten, Gemeindehaus und Turm) ihren Abschluss. Seitdem rufen die Glocken die Gemeinde zu Gebet und Gottesdienst.

Am 15. März 1984 starb der in der Gemeinde lebende frühere Seelsorger Pfarrer i.R. Gerd Nordmeyer und wurde unter großer Anteilnahme in seiner früheren Gemeinde Drevenack zur letzten Ruhe geleitet.

Seit Mai 1985 traf sich über 15 Jahre lang in den Räumen des Gemeindehauses der Freundeskreis, eine Selbsthilfegruppe von Alkoholkranken. Bis zu 75 Personen kamen zu den wöchentlichen Treffen in unser Haus. Dieser Kreis konnte stets auf eine positive helfende Tätigkeit zurücksehen.

Im Mai 1986 feierte der Bezirk ein Doppeljubiläum: Die Friedenskirche wurde 25 Jahre alt, der Kindergarten 20 Jahre. Mit einem großen Konzert wurde das Fest eröffnet.

Im August 1986 nahm das Ehepaar Frickel seinen Dienst als Küster- und Hausmeisterehepaar auf. Unzählige Gottesdienste und Veranstaltungen haben sie vorbereitet und begleitet. 30 Jahre haben sie in unserem Gemeindezentrum Dienst getan. Verabschiedeten wir sie in den Ruhestand.

Auf großes Echo stieß dann ein Bibelseminar in den Jahren 1987 und 1988. Bis zu dreißig Teilnehmer nahmen an den Abenden teil. Einige von ihnen kamen neu zum Bibelkreis hinzu.

Im Juni 1991 feierte der Kindergarten sein 25-jähriges Bestehen. Fest und Familiengottesdienst standen unter dem Motto „In unserem Haus soll Freude sein!" Ein kleines Heft mit Schmunzelgeschichten aus dem Kindergarten wurde herausgegeben.

Im Mai 1995 wurde der Jugendleiter Ralf Bröcker in einem auch in den Bezirken Stadt- und Christuskirche. Seitdem hat er Jugendliche aus unserer Gemeinde zu vielen Angeboten und Treffen gesammelt. Höhepunkt seit vielen Jahren die Jugendfreizeiten in den Sommerferien und die Segelfreiten in den Herbstferien, Seit über 20 Jahren ist er in die Konfirmandenarbeit des Bezirks eingebunden. 2010 wurde er in der Friedenskirche als Prädikant ordiniert und übernimmt seither Gottesdienste und Kasualien. Berufsqualifizierungen und Studien folgten. So ist er heute als Gemeindepädagoge in unserer Gemeinde tätig. Besonders wichtig - besonders zur Zeit von Corona - sein Engagement bei den Online-Gottesdiensten, durch die unsere Gemeinde Kontakt zu ihren Mitgliedern hält.

Im April 1997 feierte die Frauenhilfe ihr 35-jähriges Jubiläum. Unter dem Motto „Öffne dein Herzl" Eine Festschrift zur Geschichte der Frauenhilfe wurde herausgegeben.

Am 19. Mai 1998 fand das erste Frauenfrühstück im Gemeindehaus statt; vorbereitet von Frau Edith Adam und Team. Frau Brunhilde Blunck referierte über das Thema „Mütter und Töchter". Etwa 130 Frauen aus unserer Gemeinde sowie aus den Nachbargemeinden waren gekommen. Einige Jahre lang fand zweimal im Jahr dieses Frauenfrühstück statt, das jedes Mal auf großes Echo stieß.

Ein Höhepunkt im September 1998 der Besuch des Chores aus der Gemeinde Chiba in Japan. Der Aufenthalt der Chormitglieder in den Familien und der Gottesdienst waren vielen Älteren noch lange in Erinnerung. An diesen Besuch erinnert noch der in japanischer Kunstschrift gefasste Spruch im Vorraum unsere Kirche. „Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft“ steht da.

Nach langer Planung und Umbauzeit gab es 1998 (29.11.) einen Umbau der Friedenskirche. Durch die Vielzahl der Gruppen war der Umbau notwendig geworden. Der Gottesdienst stand unter dem Motto „Gott baut ein Haus, das lebt!" Inhalt der Predigt: ein Ziegelstein. Das Gemeindezentrum bietet nun noch einmal ganz neue Möglichkeiten. Vor allem ist es jetzt auch behindertengerecht ausgestattet. In Kirche und Gemeindehaus sind alle Räumlichkeiten ohne Stufen erreichbar.

Im März 1999 gab es den ersten gemeinsamen Gottesdienst mit Behinderten in der umgebauten Kirche. Thema: Alle Knospen springen auf! Seitdem wurden die Bewohner der Behindertenheime zu den gemeinsamen Gottesdiensten einige Jahre mit einem Niederflurbus abgeholt und auch wieder zurückgebracht. Die Gottesdienste mit Behinderten sind zu einer regelmäßigen Einrichtung geworden. Heute nennen sie sich in Anlehnung an die Trau-Dich-Figur der Lebenshilfe Traue- Dich- Gottesdienste.

Nach 24 Jahren ging Pfarrer Aschenbach zu Beginn des Jahres 2002 in den Ruhestand. Sein Nachfolger wurde im September 2002 der aus Mülheim stammende Pfarrer Dr. Frank Hartmann. Durch ein Glaubens-seminar des VMA wurden neue Personen angesprochen.

In dieser Zeit bildet sich der heute der Hauskreis, der sich für den Gottesdienst und das Gemeindeleben verantwortlich weiß. Roland Thiel Geist übernahm den Chor. Nach dem Tod der langjährigen Organistin Reinhild Oberhoff, übernahm er auch den Organistendienst im Bezirk.

Durch Gemeindefreizeiten, auf der Elsenburg bei Kaub, intensivierten sich die Kontakte vieler Gemeindeglieder aller Altersstufen. (Jung und Alt lernten sich in einer frohen Atmosphäre besser kennen.) In seine Zeit fiel auch die erste Erweiterung des Kindergartens, die durch die Einführung der U3 Betreuung in NRW nötig wurde.

Nach dem Abriss der Christuskirche und dem Umbau des Gemeindehauses an der Duisburger Straße nutzten mehrere Gruppen aus der Stadtmitte zusätzlich Räume unseres Gemeindehauses.

Nach 10 Jahren, 2012, wechselte Pfarr. Dr. Hartmann in eine Pfarrstelle nach Neukirchen. Die Gemeinde erlebte eine längere Vakanz. Nach zwei Stellenausschreibungen kam dann Jan Zechel mit seiner Familie zur Friedenskirche. Im Jahr 2013 kam er aus der Kirche von Schaumburg Lippe als Pfarrer in die Gemeinde. Nach einer Zeit als Pfarrer z. A. wurde 2014 durch Superintendent Waldhausen ordiniert und vom Presbyterium gewählt. Seitdem ist er im Bezirk tätig.

Die Arbeit mit Kindern konnte mit einem vergrößerten Helferkreis neu intensiviert werden. Jeden Sonntag treffen sich im Kindergottesdienst Kinder und Helfer. Der Bezirk ist der Einzige, der jeden Sonntag parallel zum Erwachsenengottesdienst einen Gottesdienst für Kinder anbietet.

Großen Anklang findet in jedem Frühjahr der sogen. Winterspielplatz im Gemeindehaus. Bis zu 70 Kinder treffen sich einmal wöchentlich im ersten Quartal des Jahres, dazu viele Eltern und Großeltern. Die Nachmittage, stehen unter einem biblischen Thema.

Ebenfalls auf großes Interesse, auch über die Grenzen der Gemeinde hinaus, trifft ein neues Gottesdienst-Format unter dem Motto „before Tatort“. Vier Mal im Jahr an einem späten Sonntagnachmittag. Ein Kreis von Mitarbeitern bereitet mit Pfarr. Zechel diese thematischen Gottes-dienste vor.

Die Zusammenarbeit mit dem Kindergarten wird intensiviert. Seit dem vergangenen Jahr gibt es die zweite Erweiterung durch einen erneuten Anbau. Eine schwere Entscheidung, doch bei der starken Nachfrage nach Kita-Plätzen sicher richtig.

Einschneidendes Ereignis für die Arbeit in unserer wie aller Gemeinden sind die vielen Einschränkungen des Gottesdienstes und Zeit in Anspruch nehmen wird. Die Gemeinden werden dann zu ihren gewohnten, vielleicht auch ganz neuen Aktivitäten zurückfinden.

Ein Blick auf die Gesamtgemeinde: 2006 erfolgte der Abriss der Christuskirche? - 2019 die Entwidmung der Martin Lutherkirche Lohberg. Von den sechs Pfarrstellen sind nur noch vier geblieben. Aus den Pfarrbezirken wurden inzwischen Seelsorgebereiche der Kirchengemeinde Dinslaken, um die Einheit der Gesamtgemeinde zu betonen. Es gibt nur noch vier Gemeindezentren, in denen die Gemeinde sich versammelt. Die Zusammenarbeit der Bezirke wird immer wichtiger.

Wir sind dabei, sich als Nachbarn und auch als Glieder der Gemeinde zu finden. Ihnen dabei zu helfen und ihnen die Botschaft von Gottes Liebe weiterzusagen, bleibt unsere ständige Aufgabe. Wir hoffen und beten, dass die Friedenskirche weiterhin Treff- und Sammelpunkt von Menschen ist, die unter der Zusage der Treue Gottes auf dem Weg sind.

60 Jahre Friedenskirche: Es bleibt uns, zu hoffen und darum zu beten, dass unser Gemeindezentrum mit Kirche, Gemeindehaus und Kindergarten dazu dient, dass Menschen den Frieden finden, den Gott geben will, dass sie dadurch befähigt werden, seinen Frieden zu leben. Denn „Ich will Frieden geben an diesem Ort, spricht der Herr".

Anmerkungen:

  • Die digitalen Daten zu diesem Vortrag hat uns, dem Verein für Heimatpflege Land Dinslaken e.V., Pfarrer i. R. Sepp Aschenbach (verstorben am 04.02.2023) zur Veröffentlichung überlassen.
  • Der Text wurde neu formatiert
  • Die im Vortragstext erwähnten Bilder stehen nicht zur Verfügung.

Anlass:

Erstellt zur Veröffentlichung auf der Webseite der Lydia und Heinz Rühl-Stiftung

Datum:

2004

Autor:

Gisela Marzin

Es ist ein Glücksfall, dass eine mittelalterliche Urkunde uns die Nachricht überliefert, dass im Herbst 1310 Mechtild von Virneburg, die Witwe des Grafen Otto von Kleve, als junge Frau die Herrschaft in Stadt und Land Dinslaken übernimmt und sie fast dreißig Jahre ausübt. Sie ist die bedeutendste Frau, deren Lebensspuren im mittelalterlichen Dinslaken nachzuvollziehen sind.

Mechtild entstammt dem im 14. Jahrhundert bedeutenden Geschlecht der von Virneburg. Das Dorf Virneburg und die namengebende Burg liegen in der Eifel zwischen der Stadt Mayen und dem Nürburgring an der B 258 im Tal des Nitzbachs. Die Grafen von Virneburg gehören als Lehnsträger des Kölner Erzstifts zu den hochrangigen Vertretern des Adels, und sie sind bedeutende Parteigänger des Kölner Metropoliten . Das hindert sie nicht daran, im Erzbistum Trier verschiedene Ämter auszuüben - liegt doch ihre Grafschaft an der Grenze beider Erzbistümer. Mechtilds Vater, Robert oder Ruprecht (1270 bis 1308), verfügt über umfangreichen Besitz im Raum Mayen, ist Amtmann in Cochem, Münstermaifeld sowie Mayen, und seine verwandtschaftlichen Verbindungen reichen bis ins französische Königshaus. Als erzbischöflicher Marschall im Herzogtum Westfalen ist er einer der höchsten Funktionsträger.

Mechtilds Mutter, die Gemahlin Roberts, heißt Kunigunde. Ihre Herkunft lässt sich nicht mit letzter Sicherheit klären. Einige Stammtafeln verzeichnen sie als eine Angehörige derer von Cuijk, andere als Kunigunde von Neuenahr. Mechtilds Geburtsjahr bleibt im Dunkeln: Es ist zwischen 1291 und 1296 anzusetzen.

Mit Gewissheit wächst Mechtild in einem Kreis von sechs Geschwistern auf, vier Brüdern und einer Schwester. Sie soll die Jüngste gewesen sein, wenn der Reihenfolge in der Stammtafel Glauben zu schenken ist. Ihr ältester Bruder, Robert, tritt 1308 die Nachfolger des Vaters an und wird Graf von Virneburg. Ihr zweiter Bruder, Heinrich, schlägt, wie damals üblich, die geistliche Laufbahn ein und wird 1328 zum Erzbischof von Mainz geweiht. Ihre ältere Schwester, Elisabeth, heiratet 1314 Heinrich von Österreich, den Bruder des regierenden Herzogs Lupold, der sich 1314 vergeblich um die Wahl zum deutschen König bemüht. Um dieses Ziel zu erreichen, hat Lupold beträchtliche Summen an Erzbischof Heinrich und den Grafen von Virneburg gezahlt und einer Hochzeit zwischen seinem Bruder und Mechtilds Schwester zugestimmt. Wäre Lupold erfolgreich gewesen, hätte Mechtild in unmittelbarer Nähe des kaiserlichen und königlichen Thrones gestanden.

Es wird auch ohne einen König in der Familie deutlich, dass Mechtild und ihre Angehörigen im Gefüge der damaligen Familien des Deutschen Reiches mit an der Spitze stehen. Mechtilds Werdegang und Schicksal liegen im Fadenkreuz der machtpolitischen Interessen dreier Männer: Ihres Bräutigams Graf Otto von Kleve, ihres Onkels Heinrich von Virneburg und des Klever Grafen Dietrich IX.

Graf Otto von Kleve und Heinrich von Virneburg

Otto, geboren 1287, ist der elfte in der Reihe der Grafen von Kleve . Er regiert die Grafschaft seit 1305.

Ein Jahr nach Ottos Amtsantritt besteigt Heinrich von Virneburg, Mechtilds Onkel, im Jahre 1306 den erzbischöflichen Stuhl zu Köln und verbleibt bis 1332 in diesem Amt . Er stellt rasch freundliche Beziehungen zum jungen Grafen Otto her und zählt ihn bald zu seinen treuesten Anhängern und Verbündeten . Um seinen Einfluss entlang des Rheinstromes auszuweiten, arrangiert Heinrich von Virneburg schließlich die Eheschließung seiner Nichte Mechtild mit Graf Otto von Kleve.

Die Ehe zwischen Mechtild von Virneburg und dem Grafen Otto von Kleve

Am 1. August 1308 heiratet Mechtild von Virneburg , die zu dem Zeitpunkt zwischen zwölf und siebzehn Jahre alt gewesen sein dürfte, den Grafen Otto von Kleve.

Als Aussteuer, die aus den Rheinzöllen bei Andernach und Bonn resultiert, erhält sie 8000 Mark guter Brabantischer Denare von ihrem Onkel, dem Kölner Erzbischof Heinrich II. von Virneburg. Dafür soll sie Otto enger an die Kölner Kirche binden. Der Betrag der Aussteuer entspricht heute einem Millionenvermögen. Die Ehe zwischen Mechtild und Otto dauert knapp zwei Jahre; Otto stirbt im September 1310 ; Mechtild wird im Alter von nicht einmal zwanzig Jahren Witwe.

Die junge Witwe

Obwohl sehr jung verwitwet, heiratet Mechtild nicht wieder. Aus der Ehe zwischen Mechtild und Otto geht ein Kind hervor: Die Tochter Irmgard wird 1311 geboren, also nach dem Tod des Vaters. Das Kind kommt sicherlich noch in Kleve zur Welt, denn für einen Sohn hätte Mechtild bis zur Volljährigkeit die klevischen Regierungsgeschäfte geführt und wäre deshalb in Kleve wohnen geblieben. Ottos Nachfolger als Graf von Kleve wird Dietrich IX. Er ist ein Stiefbruder Ottos, lebt von 1297 bis 1347 und entstammt der zweiten Ehe des gemeinsamen Vaters Dietrich VIII.

Mechtild von Virneburg erhält als Wittum, als Witwenversorgung, Stadt und Burg Dinslaken mit etlichen Gerichten und Höfen in der Umgebung als Leibzucht. Als Witwe hat Mechtild die Möglichkeit, eigenverantwortlich in dem ihr zugewiesenen Bereich zu wirken; sie ist rechtsfähig. In den Urkunden nennt sie sich "vrouwe van Dynslaken" oder Altgräfin oder lateinisch "domina de Dinslaken".

Als Angehörige eines hochangesehenen und begüterten Geschlechts ist Mechtild an einen Lebensstandard mit Annehmlichkeiten gewöhnt. Als Witwe kommt sie mit einem persönlichen Hofstaat nach Dinslaken, mit adeligen Begleitern und ihren Damen sowie einem eigenen Beichtvater. Wenn sie unterwegs ist, bleibt in Dinslaken ein Teil des Hofstaats zurück:

amptlude, borchlude, torenlude, poerteneir, wechtere ende alle die die borch van Dinslaken te huden ende te waren hebben. (Amtleute, Burgleute, Torleute, Pförtner, Wächter und alle, die die Burg Dinslaken zu hüten und zu wahren haben).

Dass Mechtild adelige Kultur, ritterliche Tugenden oder gar Turniere nach Dinslaken gebracht hat, ist unwahrscheinlich, dafür hatte sie wohl nicht die finanziellen Möglichkeiten. Keine Urkunde bezeugt, ob sie Dinslaken gefördert oder der Pfarrkirche in Hiesfeld durch Stiftungen fürstliche Huld erwiesen hat. Die einzige Kapelle innerhalb der Stadt Dinslaken vor 1436 befand sich im Hauptbau der Dinslakener Burg, in Mechtilds Domizil.

Ist es Zufall oder ein von ihr geförderter Akt, dass die Gründung einer Schule 1321 in die Zeit von Mechtilds Herrschaft über Dinslaken fällt? - Fragen, die alle offen bleiben müssen. Gewiss ist, dass Mechtild allein durch ihre Anwesenheit ein wenig Glanz nach Dinslaken bringt, wenn der vergleichende Blick auf die Landstädte der Umgebung gestattet ist.

Mechtild, die Herrscherin

Mechtild verwaltet das ihr als Witwe übereignete Gebiet, vergrößert es und verfügt über die Erträge. Sie sorgt für ihre Tochter und deren angemessene Verheiratung. Bei alledem stützt sie sich auf die Familie Virneburg. In einer Urkunde vom 29. September 1325 , niedergelegt während ihrer Anwesenheit in Dinslaken, wird der Begriff "lant van Dinslaken" verwendet, auch wenn damit noch nicht die Grenzen des Bezirks, wie wir sie heute noch verstehen - etwa von der Emscher bis zur Lippe - bezeichnet sind.

Ein Verzeichnis von 1325 umreißt die Ausdehnung ihres Besitzes: das Gericht zu Bottrop und zu Osterfeld mit den dazugehörigen Menschen, den Hof zu Dorsten und zu "Vagedinc" mit dem Zubehör, ferner Eppinghoven und die Gerichte Gahlen und Hamborn mit den zugehörigen Leuten, außerdem Güter und Gerichte auf der anderen Seite des Dinslakener Waldes. Dinslaken bildet einen eigenen Herrschaftsbezirk.

Der Konflikt zwischen Kleve und Köln

Unmittelbar nach Ottos Tod handelt Mechtilds Onkel, der Erzbischof von Köln. Er hat anscheinend auf einen Grund gewartet, um das Lehen Kleve für verfallen zu erklären. Der Erzbischof will seinen Besitz am Niederrhein unbedingt zu einem größeren Territorium zusammen-schließen und die Grafschaft Kleve in den Besitz seiner Kirche bringen.

Daher bestreitet er das Nachfolgerecht Dietrichs. 1311 lässt er ein umfangreiches Verzeichnis anfertigen, in dem er alle Lehen aufzählt, die Kleve von Köln erhalten und dem Erzbistum im Laufe der Zeit entfremdet hat; dazu gehört u.a. das Land Dinslaken . Im Entwurf eines Friedensvertrages aus der Zeit 1314/15 zwischen dem Erzbischof Heinrich und dem Grafen Engelbert von der Mark - dem Hauptgegner Kleves - werden die Ansprüche erneut aufgezählt.

Nach diesen Plänen soll die Grafschaft Mark die rechtsrheinischen Teile Kleves erhalten. Das überrascht zunächst, doch dahinter steckt Kalkül: Irmgard, Mechtilds Tochter, wird als Kleinkind dem klevischen Konkurrenten Adolf von der Mark zur Ehe versprochen. Einen weiteren Verbündeten sucht sich Erzbischof Heinrich, als er am 9.Mai 1314 in einem Vertrag verspricht, Friedrich den Schönen von Österreich bei der bevorstehenden Königswahl zu unterstützen und verheiratet etwa zeitgleich seine Nichte Elisabeth (Mechtilds Schwester) mit einem Bruder des künftigen Königs. Im Vertrag von 1314 gibt Friedrich von Österreich für den Fall seiner Wahl dem Erzbischof folgendes Versprechen:

Der König wird dem Erzbischof gegen alle seine Feinde beistehen,... Besonders will er dem Erzbischof zur Erlangung der Grafschaft Kleve, die diesem devolviert (anheimgefallen, Anm.) ist, behülflich sein.

Außerdem baut der Erzbischof in Mechtilds Interesse eine Klausel zugunsten der dreijährigen Tochter Irmgard in die Urkunde von 1314 ein:

7. Die Tochter des Grafen Otto von Kleve will er mit den heimgefallenen Reichslehen belehnen. ..."

Für den Kölner Erzbischof kommt die Königswahl von 1314 einer Katastrophe gleich: Ludwig von Bayern wird zum deutschen König gewählt. Dieses Ereignis geht als die Doppelwahl in die Geschichte ein, denn Ludwig und Friedrich herrschen zunächst als deutscher König. Dennoch: Der Bayer ist der Stärkere und Erzbischof Heinrich hat auf die falsche Karte gesetzt. Nicht genug damit, dass er an Macht und Einfluss verloren hat, er steht einem erstarkten Grafen Dietrich IX. von Kleve gegenüber, denn dieser hatte sich für den Bayern ausgesprochen.

Nach der Königswahl müssen umfangreiche diplomatische Verhandlungen begonnen haben, denn 1317 gibt es einen Schiedsspruch zwischen Erzbischof Heinrich, Graf Engelbert von der Mark, Mechtild, die in der Urkunde Mechtild von Kleve und Herrin von Dinslaken genannt wird, und ihrer Tochter Irmgard einerseits und verschiedenen anderen Adeligen des Niederrheins andererseits, mit denen der Bischof Auseinandersetzungen hatte.

Dieses Schiedsverfahren regelt 121 umstrittene Fälle. Alle Forderungen des Kölner Kirchenfürsten werden zurückgewiesen. Mechtild wird im Kopf der Urkunde ausdrücklich als Mitausstellerin genannt, doch erst die Punkte 113 bis 121 betreffen Mechtild:

Die Ehe zwischen Adolf von der Mark und Irmgard, Tochter Ottos von Kleve, die der Graf von Kleve nicht als rechtsgültig anerkennen will, soll vom Papst und der Kirche geprüft werden.

Der Versuch Mechtilds und des Erzbischofs Heinrich von Virneburg, Dinslaken durch die Eheschließung Irmgards mit Adolf von der Mark näher an Köln zu rücken und die Kölner Ansprüche auf Kleve durchzusetzen, scheitert. Das Eheversprechen zwischen Adolf und Irmgard wird gelöst. Damit erleiden auch Mechtilds Gedanken an eine Herrschaft Dinslaken, losgelöst von Kleve, Schiffbruch. Dinslaken bleibt durch diesen Schiedsspruch im Verband Kleves.

Zehn Jahre später wird abermals offensichtlich, wie kirchliche Regelungen für Machtpolitik funktionalisiert werden. Die politischen Konstellationen haben sich entscheidend gewandelt: Adolf von der Mark heiratet 1327 Margarete, die Tochter seines früheren Feindes, Graf Dietrichs von Kleve. Deutlich wird, dass Mechtild zu der Familie ihres Mannes, besonders zu Dietrich IX., kein gutes Verhältnis hat. Dagegen hatte sich ihr Onkel, der Erzbischof Heinrich von Virneburg ihrer schützend angenommen und beansprucht dafür Dinslaken als Kölner Lehen.

Für Mechtild muss es ein schwacher Trost gewesen sein, wenn in dem Schiedsspruch von 1317 der Erzbischof verpflichtet wird, den Klever zu belehnen, und es weiter heißt, dass "Mechtild, die Witwe Ottos von Kleve, ihr Wittum und ihre Tochter Irmgard bestimmte Güter erhalten solle".

Um den Schaden zu begrenzen, überträgt Mechtild dem Grafen Dietrich IX. die Vormundschaft über ihre Tochter Irmgard. Für acht Jahre, bis zur standesgemäßen Verheiratung Irmgards im Jahr 1325 mit Johann von Arkel, einem jungen Mann aus einem angesehenen Geschlecht bei Utrecht, kehrt Ruhe in die Auseinandersetzung zwischen Mechtild und den Klevern ein.

Nach der Eheschließung der Tochter muss sich Mechtild einschränken. Fünfzehn Jahre nach Eintritt der Witwenschaft - kurz nach der Heirat der Tochter - muss sie große Teile ihres Besitzes und ihrer Einnahmen abgeben. Noch im selben Jahr, 1325 , verzichtet Meghteld vrouwe van Dynslaken auf alle rückständigen Zahlungen und sonstigen Forderungen gegenüber den Brüdern bzw. der Grafschaft Kleve und begnügt sich mit der "liftught" (Leibzucht) und "morghengave" (Morgengabe) ihres verstorbenen Mannes, des Grafen Otto von Kleve. Das bedeutet, dass sie die Gerichte Hamborn, Osterfeld, Bottrop, Gahlen und einige Höfe bei Dorsten zurückgibt. Sie verpflichtet sich, ihren Witwenbesitz nach ihrem Tod wieder an den Grafen von Kleve fallen zu lassen.

Dreizehn Jahre später, sechs Jahre nach dem Tod ihres Beschützers, des Erzbischofs Heinrich von Virneburg, wird das letzte große Kapitel in der Geschichte unserer Witwe geschrieben. Nach der Quellenlage trifft sie 1338 mit ihren Schwägern in Kleve im Minoritenkloster zusammen . Das Kloster der Minderbrüder, das sind die Franziskaner, ist das einzige größere Gebäude in der Frühzeit der Stadt Kleve; außerdem steht es als Kloster außerhalb der Gewalt der Amtskirche. Durch den gewählten Ort dokumentiert Dietrich IX. seine Überlegenheit und sein Selbstbewusst-sein. Das Treffen endet erwartungsgemäß mit einer Übereinkunft zugunsten des Grafen von Kleve, die urkundlich festgehalten wird. In der Urkunde geht es unter anderem um den Streit zwischen Dietrich von Kleve und dessen Bruder Johann (erwähnt seit 1310, gestorben 1368), Domdechant zu Köln, wegen Mechtilds Wittum Dinslaken.

Die Lehnsbindung Kleves an Köln wird bestätigt und Mechtild wird in ihren Witwenrechten bestärkt: Sie darf zu Lebzeiten ihre Leibzucht genießen, und es ist rechtens, dass sie diese an Johann, Domdechant von Köln, übertragen hat. Johann erhält die Auflage, die Leibzucht und Morgengabe nach ihrem Tod dem Grafen von Kleve zu übereignen . Johann regiert zu diesem Zeitpunkt bereits mit Dietrich IX. gemeinsam das Herzogtum Kleve. Er verwaltet seine Besitzungen zeitlebens umsichtig und erfolgreich. Mechtild trifft eine kluge Wahl, als sie sich Johann anvertraut.

Für eine jährliche Rente von 210 Mark alter Brabanter Pfennige, einer seit 1310 am Niederrhein gängigen Zahlungseinheit, tritt Mechtild von Virneburg Dinslaken mit allen Rechten und Pflichten an Johann ab. Dieser gibt das Witwengut Dinslaken an Dietrich IX. weiter.

Im Alter zwischen 40 und 50 Jahren gibt Mechtild es auf, ihren Besitz selbst zu verwalten. In einer Zeit, in der kaum jemand älter als sechzig Jahre wird, ist Mechtild eine alte Frau. Vermutlich sind ihr die mit der Herrschaft verbundene Arbeit und der Ärger zu viel geworden. Aber eine Urkunde aus dem Jahr 1345 zeigt, dass Mechtild immer noch eine begüterte Frau ist und am politischen Leben teilnimmt19. Sie verpfändet dem Kölner Domkapitel ihre Leibrente von 150 Florin. Mit dem Betrag bezahlt das Domkapitel Kriegssöldner. Im Jahr 1371/72 übernimmt Dietrich von der Mark für 30 Jahre die Herrschaft Dinslaken und knüpft nahtlos an Mechtilds Zielen an, denn er privilegiert Dinslaken und errichtet sogar eine Münzstätte, aus der die später berühmten gewordenen Dinslakener Pfennige hervorgehen.

Mechtild lebt, nachdem sie die letzte überlieferte Urkunde ausgestellt hat, weitere 22 Jahre. Für die Menschen des Mittelalters war der Tod etwas Natürliches, das trotzdem die gleiche Angst einflößte wie unerklärliche Naturereignisse. Um für das Seelenheil im Jenseits Vorsorge zu treffen, zogen sich die mittelalterlichen Adeligen oftmals gegen Ende ihres Lebens in ein Kloster zurück. Dass Mechtild im Nekrolog des Klosters Oberndorf bei Wesel20 verzeichnet ist, deutet darauf hin, dass sie ihre letzten Lebensjahre dort verbracht hat. Mit dem ihr verbliebenen Vermögen hat sie dafür gesorgt, dass nach ihrem Tod jährliche Seelenmessen für sie gehalten wurden. Durch das Totenverzeichnis wissen wir, dass Mechtild von Virneburg am 25. April 1360 stirbt. Bedenkt man, dass das Geburtsdatum von Personen des Mittelalters meist unbekannt bleibt, so wird deutlich, dass in gewissem Sinn das Leben weniger als der Tod zählte. Unbekannt ist, wo Mechtild begraben ist. Es scheint unwahrscheinlich, dass sie fünfzig Jahre nach dem Tod ihres Mannes Otto an seiner Seite in der Familiengruft im klevischen Hauskloster Bedburg bestattet wird. Eher wäre ihr Grab auf dem Friedhof des Klosters Oberndorf zu suchen. Ein Jahresgedächtnis für sie ist im Nekrolog des Klosters Oberndorf verzeichnet.

Was bleibt von Mechtild?

Mechtild von Virneburg, Angehörige einer Familie, die zeitweilig Reichspolitik mitgestaltet, verschlägt es aus dynastischen Gründen von der Eifel an den Niederrhein. Sie heiratet mit Otto von Kleve den Erben einer für den Kölner Bischofsstuhl, auf dem ihr Onkel sitzt, wichtigen Grafschaft. Durch den frühen Tod ihres Mannes wird ihr Leben unerwartet umgestoßen, und sie ist gezwungen, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen, um ihrer Tochter Erbansprüche auf Kleve zu erhalten. Mit dem Nachfolger ihres Mannes, Dietrich IX., gerät sie in Konflikt und verbindet sich, nicht zuletzt wegen familiärer Bande, enger mit den Kölnern, die ihrerseits Ansprüche gegen Kleve durchsetzen möchten. Bis in die Reichspolitik hinein spitzen sich die Auseinander-setzungen zu. Mit der Wahl Ludwigs des Bayern zum deutschen König geht für Köln und Mechtild das Ringen verloren.

Mechtild muss einsehen, dass sie als Herrscherin eines kleinen Territoriums, eingeschlossen von mächtigen Nachbarn, nicht bestehen, das Land Dinslaken nicht vererben kann, sondern es an die klevischen Grafen zurückgeben muss. Die Aufhebung der avisierten Heirat ihrer einzigen Tochter mit Adolf von der Mark zeigt ihr, dass sie Dinslaken für sich und ihr Kind nicht halten kann. In dem Spiel um Macht zwischen Kleve und Köln wird sie als Frau und Herrscherin zerrieben. Alles, was dem Schiedsspruch von 1317 folgt, ist als ein hinhaltender Rückzug aus den Pflichten einer Herrscherin zu sehen.

Sie hat als Frau fast 30 Jahre das Land Dinslaken mit seinen umfangreichen Ländereien, Gerichten, Höfen, Gütern und Menschen verwaltet. Sie hat sich ihres Wittums Dinslaken aktiv angenommen und eigenen Gestaltungswillen gezeigt. Unter ihr wird das Land Dinslaken erstmals als eine Einheit gesehen und geht in die Urkunden ein. Auch wenn Dinslaken an die Klever zurückgefallen und nicht bei den Virneburgern verblieben ist, so ist Mechtilds Herrschaft im Land Dinslaken eine ungewöhnliche Leistung für eine Frau ihrer Zeit!

  1. Iwanski, Wilhelm, Geschichte der Grafen von Virneburg von ihren Anfängen bis auf Robert IV. (1383), Dissertation Berlin/Koblenz 1912. Wenn nicht anders angegeben, wird bei der Familiengeschichte und der Politik der Familie von Virneburg auf Iwanski zurückgegriffen.
  2. Kastner, Dieter, Die Territorialpolitik der Grafen von Kleve, Düsseldorf 1972 (Veröffentlichungen des Historischen Vereins für den Niederrhein 11)
  3. Seng, Ulrich, Heinrich II. von Virneburg als Erzbischof von Köln, Siegburg 1977 (Studien zur Kölner Kirchengeschichte 13)
  4. Die Regesten der Erzbischöfe von Köln im Mittelalter, bear. von Wilhelm Kisky. Vierter Band 1304-1332. Düsseldorf 1985 (Pub. GesRhein Geschkde), Urkunden Nr. 240 und 259
  5. Die Regesten der Erzbischöfe von Köln im Mittelalter, a.a.O. Urkunde Nr. 337
  6. Die Regesten der Erzbischöfe von Köln im Mittelalter, a.a.O. Urkunde Nr. 674
  7. Kleve-Mark Urkunden 1223 –1368. Regesten des Bestandes Kleve-Mark Urkunden im Nordrhein
  8. Stampfuß, Rudolf, und Triller, Anneliese, Geschichte der Stadt Dinslaken 1273-1973. Dinslakener Beiträge 10, Neustadt/Aisch 1973
  9. Kleve-Mark Urkunden, a.a.O., Urkunde Nr. 178
  10. Im Jahr 1319 ließ Graf Dietrich IX. von Kleve (1310-1347) ein umfassendes Verzeichnis der gräflichen Einkünfte anlegen, 1336/7 ließ er erstmals das klevische Urkundenarchiv ordnen und die für die Herrschaft wesentlichen Urkunden abschreiben und so das erste Kopiar der Grafschaft Kleve anlegen. An dieses Verzeichnis ist nachträglich eine Aufzeichnung über die Besitzungen und Einkünfte, die die Altgräfin Mechtild von Kleve etwa 1325 an ihre Schwäger abgetreten hat, angefügt. Das Kopiar ist veröffentlicht von W.-R. Schleidgen, Das Kopiar der Grafen von Kleve, Kleve 1986 (Schriftenreihe des Stadtarchivs Kleve 6)
    Veröffentlicht ist das zitierte Verzeichnis von 1325 nicht im vorgenannten Kopiar, sondern in "Quellen zur inneren Geschichte der rheinischen Territorien. Grafschaft Kleve 1. Das Einkünfteverzeichnis des Grafen Dietrich IX. von 1319 und drei kleinere Verzeichnisse des rechtsrheinischen Bereichs, hg. Von F.W. Oediger unter Benutzung von Vorarbeiten von Th. Ilgen und Mitwirkung von M.Petry, 2 Teile, Düsseldorf 1982 (Publ. GesRhein Geschkde XXXVIII), S. 264 ff
  11. Die Regesten der Erzbischöfe von Köln im Mittelalter, a.a.O. Urkunde Nr. 674 Westfälischen Hauptstaatsarchiv in Düsseldorf, bearb. Von Wolf-Rüdiger Schleidgen, Siegburg 1983 (Veröffentlichungen der staatlichen Archive des Landes NW, Reihe C Bd.13), Urkunde Nr. 226
  12. Ebd. Nr. 901
  13. Ebd. Nr. 816
  14. Per definitionem ist Lehen ein weltliches oder geistliches Gut, das dem Beliehenen auf Lebenszeit eingeräumt wird und persönliche, besonders militärische Leistungen und Hofdienste als Gegenleistung erfordert. Ein Reichslehen ist ein unmittelbar vom deutschen Kaiser abhängiges Lehen. Die oben zitierte Urkunde könnte der einzige vage Hinweis darauf sein, daß Dinslaken ursprünglich ein Reichslehen gewesen sein könnte. Denn womit, wenn nicht mit Dinslaken, sollte die Tochter Irmgard des klevischen Grafen belehnt werden?
  15. Die Regesten der Erzbischöfe von Köln im Mittelalter, a.a.O. Urkunde Nr. 1004
  16. Kleve-Mark Urkunden, a.a.O. Urkunde Nr. 178
  17. Kleve-Mark Urkunden, a.a.O. Urkunde Nr. 225
  18. Ebd. Nrn. 226 und 227
  19. Urkundenbuch für die Geschichte des Niederrheins. Bear. von Theodor Josef Lacomblet. Neudruck der Ausgabe von 1840-1858, Aalen 1960, Urkunde Nr. 427
  20. Nordrhein-Westfälisches Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Kloster Oberndorf, Repertorium und Handschriften Nr. 5 Blatt 21 R

Anlass:

100. Todestag von Friedrich Althoff

Datum:

30.10.2008

Ort:

Rathaus Dinslaken

Autor:

Prof. Dr. Hubert Laitko

Sehr geehrte Frau Bürgermeisterin Weiss!
Sehr geehrte Festversammlung!

So wenig aufregend Friedrich Althoffs äußerer Lebenszuschnitt auch immer war — die Drama­tik der Ideen, Entwürfe, Entscheidungen und Handlungen, die dieses Leben barg, war so ver­wickelt, vielgestaltig und folgenreich, dass es auch die Kunst des kenntnisreichsten Biogra­phen überfordert, es in den engen Rahmen einer dichten Beschreibung zu bannen. Sie alle werden empfunden haben, dass Bernhard vom Brocke in der imponierenden Bilanz, die er hier vorgetragen hat, weitaus mehr weglassen musste, als er sagen konnte. Dennoch hat sein knappes Fazit ausgereicht, um eindrucksvoll die Kontur einer außergewöhnlichen Erfolgsge­schichte zu zeichnen. wie sie die Annalen der deutschen Vergangenheit selten bieten. Wenn vieles von dem, was er vorgedacht und in die Wege geleitet hatte, in der Katastrophe des Ers­ten Weltkriegs unterging, so ist Althoff selbst dafür am allerwenigsten in die Verantwortung zu nehmen. Er hat getan, was in seinen Kräften stand, um die ausgedehnte Friedensperiode des Deutschen Reiches, die den Hintergrund seines Lebenswerkes bildete, auf lange Sicht fortzuschreiben; es war sein Schicksal, dies in einer Gesellschaft versucht zu haben, in der die Kräfte, die zum Krieg drängten, letztendlich stärker waren als die maßvollen Stimmen der Vernunft.

Wie war es nun möglich, dass Althoff sein Amt — oder besser: die Folge seiner Ämter mit einem sich immer mehr erweiternden Verantwortungsbereich — im preußischen Kultusminis­terium mit einem so exzeptionellen Erfolg führen konnte, der uns ein Jahrhundert nach sei­nem Tod bewundernd zurückblicken lässt und es auch einem professionellen Historiker schwer macht, der Pflicht zu wissenschaftlicher Nüchternheit zu gehorchen und zu seinem Wirken und dessen Wirkungen den gebührenden kritischen Abstand zu gewinnen? Jedem, der sich etwas näher mit Althoff beschäftigt, drängt sich diese vertrackte Wie-Frage auf. Beson­ders virulent wurde sie im letzten Drittel des 20. Jhs., manchmal offen, häufiger implizit ge­stellt und bisweilen mit der verwegenen Hoffnung verbunden, man könnte womöglich bei Althoff in die Lehre gehen und seinem Schaffen probate Rezepte ablesen, die sich in unsere Zeit übertragen ließen, um damit die erheblichen öffentlichen Mittel, die heute für die Wis­senschaft aufgewandt werden, in mehr und bedeutendere wissenschaftliche Erfolge umzu­münzen.

Wenn üppige Budgets bereitstehen und mit vollen Händen verteilt werden können, fällt es auch einem durchschnittlichen Ministerial-beamten leicht, auf seinem Feld eindrucksvolle Er­folge zu erzielen und in angenehmer Erinnerung zu bleiben. Von einer so komfortablen Situa­tion konnte Althoff nur träumen. Er amtierte unter Bedingungen chronischer finanzieller An­spannung, und was ihm an disponiblen Mitteln fehlte, musste er durch überlegenes Können ersetzen. Darauf vor allem beruht die ungebrochene Faszination, die bis heute von ihm aus­geht. Während des ganzen Vierteljahrhunderts seiner ministeriellen Tätigkeit konnte er nie aus dem Vollen schöpfen, ungeachtet dessen, dass seine Erfahrung, seine Routine, seine Autorität und sein Einfluss mit den Jahren immer größer wurden. Auch wenn die Wissenschafts­aufwendungen Preußens während seiner Amtszeit respektabel zunahmen — die Ansprüche der expandierenden Wissenschaft an die Finanzierungs-bereitschaft des Staates stiegen noch weit­aus schneller, und selbst das kleine Baden wandte pro Kopf seiner Bevölkerung doppelt so viel für die Wissenschaft auf wie das mächtige Preußen. Althoffs administratives und politi­sches Genie entfaltete sich in der Beschränkung, von dort her gewann es Glanz und Größe.

Dieser erstaunliche Beamte hat kein Manual hinterlassen, keine Instruktionsfibel, in der er das Repertoire seiner Methoden geordnet dargestellt hätte, mit ausführlichen Anleitungen, wann wie zu agieren und worauf wie zu reagieren sei. Nichtsdestoweniger haben schon die Zeitge­nossen gespürt, dass seine Handlungen, die die allerunter-schiedlichsten Bereiche des Wissen­schaftsbetriebes in Preußen betrafen und auf den ersten Blick so heterogen waren wie ihre Gegenstände, irgendwie miteinander zusammenhingen, und dafür das (von Herrn vom Brocke bereits eingeführte) Etikett „System Althoff" erfunden. Doch so mühelos man dieses Etikett auch handhaben kann, wenn es einmal in Gebrauch genommen ist — die historische Wirklich­keit, die damit gekennzeichnet wird, sträubt sich gegen ihre Auflösung in ein einfaches Re­gelwerk.

Ich möchte versuchen, mich dem schwer Fassbaren in fünf vorsichtigen Schritten zu nähern.

Erster Schritt. Wo stand Althoffs Praxis im Spannungsfeld von Staat und Wissenschaft? Die Antwort erscheint ganz einfach: Althoff war Ministerialbeamter, also gehörte er der staatli­chen Kultusverwaltung an, und zwischen ihm und den Wissenschaftlern, mit denen er zu tun hatte, verlief die Demarkationslinie, die Politik und Wissenschaft voneinander scheidet. Aber so eindeutig sind die Verhältnisse nur, wenn man allein Althoffs formelle Dienststellung be­trachtet. Schaut man genauer hin, was er in dieser Stellung tat, dann verliert sich diese Ein­deutigkeit, und die scheinbar so klare Grenze verschwimmt. Dann wird erkennbar, dass er mindestens so nachdrücklich die Anliegen der Wissenschaft gegenüber dem Staat geltend machte, wie er den Gelehrten als Anwalt des Staatsinteresses gegenübertrat. Er agierte in einer hybriden Rolle, war Verwaltungsbeamter und Wissenschaftler in einem. In seinen prä­genden Straßburger Jahren, die seinem Eintritt in das preußische Kultusministerium voraus­gingen, hatte er diese Rolle geübt und verinnerlicht. Als Verwaltungsfachmann war er an der Ausgestaltung der neuen Reichsuniversität beteiligt, zugleich lehrte er als einer ihrer Profes­soren Rechtswissenschaften, und es ist bekannt, dass er für sich selbst die Entscheidung, ob sein Lebensweg endgültig in die Wissenschaft oder in die Verwaltungspraxis führen sollte, lange offen hielt. Diese Doppelprägung nahm er mit nach Berlin und lebte sie weiter.

Eine unscheinbare, kaum bekannte Episode mag dies deutlich machen. Im Jahre 1903 regte angesichts der im deutschen Weinbau grassierenden Reblausplage der preußische Landwirt­schaftsminister gegenüber dem Kultusministerium an, einen Lehrstuhl für Phytopathologie, die Lehre von den Pflanzenkrankheiten, an der Universität Halle einzurichten, an dem Metho­den zur effektiven Reblausbekämpfung erarbeitet werden sollten. Der Finanzminister stimmte dem Vorhaben zu, meinte aber, dieser Lehrstuhl sollte nur vorübergehend bestehen und spä­ter, wenn brauchbare Mittel gegen die Reblaus zur Verfügung ständen, wieder gestrichen werden. Althoff indes sprach sich in einer Stellungnahme gegenüber dem Landwirtschaftsmi­nisterium dafür aus, „von einem späteren Wegfall der neuerrichteten Professur in Halle Ab­stand zu nehmen". Ein solches Vorgehen wäre auch „mit der Stellung eines Professors an der Universität nicht vereinbar". Damit verwahrte sich Althoff dagegen, die Wissenschaft — zumal die universitäre — als bloße Dienstleisterin für die Erfüllung praktischer Aufgaben zu behan­deln, mögen diese auch noch so dringlich sein. Wenn sich die Wissenschaft eines praktischen Themas annahm, dann musste sie es nach seiner Überzeugung zum Gegenstand grundlagenbezogener Erkenntnisarbeit machen und die geforderten Lösungen für die Praxis aus dieser weiten Perspektive entwickeln. Zugleich sah er, dass eine rein pragmatische, nur fiskalisch orientierte Vorgehensweise die Würde des Hochschullehrers verletzen könnte. Mit vollem Recht urteilt der Biologiehistoriker Ulrich Sucker, dem wir die Untersuchung dieses Falles verdanken, über Althoffs Vorgehen mit den Worten: in würdevoller Weise vertrat er den Standpunkt der Wissen-schaft seitens seines Ministeriums..." Damit ist der Kern der Sache getroffen: Es war der Standpunkt der Wissenschaft selbst, den sich Althoff zu eigen machte und den er mit den Machtmitteln des Kultusministeriums gegenüber dem Finanzministerium verfocht. Beide hier genannten Akzente — die Hervorhebung grundlagenorientierten Erken­nens und die Betonung der Würde des Gelehrten — sind typische Argumentationsfiguren des Wissenschaftlers, nicht des Verwaltungs-beamten.

Die Zeit um die Wende vom 19. zum 20.Jh. gilt als Blütezeit der Moderne, als deren hervor­stechendes Merkmal die Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Teilsysteme — Politik, Wirtschaft, Recht, Wissenschaft usw. — und ihre scharfe Profilierung gegeneinander gesehen wird. Aus dieser Perspektive betrachtet, unterlief Althoffs Verwaltungspraxis die rigide Grenzziehung zwischen Staat und Wissenschaft und war damit seiner Zeit weit voraus. Es erscheint mir nicht unplausibel, den Schlüssel zum Phänomen Althoff gerade hier zu suchen.

Zweiter Schritt. Welche Konsequenzen hatte die hybride Rolle zwischen Staat und Wissen­schaft für Althoffs Charakterbild? Der idealtypische Verwaltungsbeamte ist ein Rädchen im Getriebe, perfekt und geräuschlos im Rahmen vorgegebener Normen funktionierend und ver­lustfrei austauschbar gegen andere Inhaber identischer Qualifikationen — der idealtypische Wissenschaftler hingegen ist eine unikale, einzigartige Persönlichkeit, unwiederholbar und unersetzlich in seinem schöpferischen Vermögen. Beide Typisierungen liegen an der Grenze zur Karikatur, doch sie machen in ihrer rabiaten Zuspitzung auch Wesentliches deutlich. Althoff bewies kraft seiner Identifizierung mit dem Geist der Wissenschaft weit mehr an indi­vidueller Eigenart, als sich ein Verwaltungsbeamter gemeinhin gestatten darf und zu gestatten pflegt. Das äußerte sich in der Originalität seiner Problemsichten und Lösungswege, in seiner Bereitschaft, eingebürgerte Konventionen über den Haufen zu werfen und Gewohnheitsrechte zu brechen. Keineswegs bedeutete es aber, dass er sich je in den Vordergrund gespielt hätte. Die Welt der Stars hatte für ihn keinen Reiz, in seinem unprätentiösen Verhalten entsprach er ganz dem Normativ preußischer Pflichterfüllung und in der Diskretheit seiner Aktionen den Erwartungen, die an einen guten Beamten gestellt werden. Manchmal musste er das seinen ungeduldigen Protegés, denen seine Hilfe nicht schnell genug kam, auf den Kopf zu sagen. So versicherte er einem seiner Schützlinge, dem hochbegabten, aber schwierigen Bakteriologen Emil Behring, in einem Brief zum Jahresende 1894, es sei weiterhin sein entschiedenes Bestreben, diesem "an einer preußischen Universität eine geeignete Stelle zu bereiten. [...] Wenn die Dinge nicht immer einen so raschen und durchsichtigen Verlauf nehmen, wie ich es wünsche, so hängt das mit geschäftlichen Verhältnissen zusammen, für die Sie als Außenste­hender kein volles Verständnis haben können, die wir aber schon überwinden werden".

Althoff war kein Mann der Öffentlichkeit und verzichtete auch weitgehend auf eigene publi­zistische Stellungnahmen zu aktuellen Streitthemen, obwohl es ihm weder an rhetorischem Geschick noch an stilistischer Gewandtheit fehlte. An die Öffentlichkeit trat er nur, wenn er es von Amts wegen tun musste — etwa dann, wenn er sich als Regierungskommissar den Par­lamentariern im preußischen Abgeordnetenhaus zu stellen hatte. Sobald er aber in dieser Ei­genschaft das Wort ergriff, tat er es mit Bravour. Ein Glanzstück war die Durchsetzung des laufenden Jahresetats 1891 für Robert Kochs Instituts für Infektionskrankheiten im Abgeord­netenhaus. Das Schicksal dieses innovativen Instituts, dessen Einrichtung Althoff zu danken war, stand auf der Kippe, denn das von Koch entdeckte Tuberkulin, von dem sich ein Jahr zuvor in beispielloser Euphorie alle einen Blitzsieg über die gefürchtete Tuberkulose verspra­chen, hatte sich als eine Enttäuschung erwiesen, und so war der überzogenen Begeisterung ein nicht minder unvernünftiger Katzenjammer gefolgt. Auch der wortgewaltige Rudolf Virchow war gegen die Bewilligung des Budgets. In dieser prekären Situation bediente Althoff, nach­dem er sachlich die medizinische Bedeutung des Instituts erläutert hatte, mit großem Geschick die patriotische Klaviatur. Es sei, so sagte er, vorzugsweise das Verdienst der deutschen For­schung, die Ursache der Infektionskrankheiten nachgewiesen zu haben, schilderte die ein­schlägigen Anstrengungen anderer Staaten und rief den Abgeordneten zu: „...wir möchten, dass Sie die deutsche medizinische Wissenschaft in den Stand setzen, das zu vollenden, was sie angefangen hat, da zu ernten, wo sie gesät hat". Für den Kampf gegen die Infektions­krankheiten müsse „eine vollständige wissenschaftliche Mobilmachung erfolgen, da darf es in nichts an der Rüstung fehlen". Das war die Tonlage, mit der man im wilhelminischen Deutschland Mehrheiten gewann.

Dritter Schritt. Worauf gründete sich die Originalität und Reichhaltigkeit des Althoff‘schen Methodenrepertoires und die hochgradige Treffsicherheit seines Vorgehens? Diese Frage ist unter allen, die man zum "System Althoff" stellen kann, wohl am sichersten zu beantworten —jedenfalls im Prinzip, wenn auch im Detail noch vieles zu erkunden bleibt. Die intuitive Prä­zision seiner Entscheidungen, etwa in Berufungsfragen auf Gebieten, die ihm als Juristen fachlich fern stehen mussten, hat oft bewunderndes Erstaunen ausgelöst und manchmal dazu verführt, ihm übermenschliche Prädikate wie „Allmacht" oder „Dämonie" zuzuschreiben. Die Althoff-Zeit war eine Epoche präzedenzlosen Aufstiegs der Naturwissenschaften, die zugleich kraftvoll wie nie zuvor in ganz unterschiedliche Bereiche der menschlichen Lebenspraxis hin­einwirkten, von der Medizin über die Produktionstechnik bis zum Verkehrs- und Nachrich­tenwesen. Althoff hat diesem Prozess nicht nur interessiert zugeschaut, sondern hat ihn auch aktiv moderiert — oft, wenn auch nicht immer als zielgenauer Förderer vielversprechender Frontgebiete der Forschung, von denen die Immunologie und Serumtherapie nur eines von zahlreichen Beispielen ist, freilich ein besonders populäres.

Was hat ihn, den Juristen, dazu befähigt, wo er doch zu allen diesen Feldern nicht die gerings­te fachliche Affinität haben konnte? Er war dazu allein deshalb in der Lage, weil er sich über ausgedehnte Netze von Beratern und Vertrauenspersonen die verteilte Kompetenz der diver­sen wissenschaftlichen Fachgemeinschaften in einem Maße zugänglich machte, das in den Wissenschaftsverwaltungen weder vorher noch nachher üblich war. Daraus erwuchs ihm eine aggregierte Informationsbasis, die in wissenschaftspolitischen Entscheidungsfragen jener sei­ner Partner und Kontrahenten überlegen war, oft mit weitem Abstand. Es waren Hunderte von Wissenschaftlern, mit denen er in persönlichem Austausch stand. Die zahlreichen Briefe, die sie ihm schrieben, sind zum großen Teil erhalten geblieben; was sie ihm darüber hinaus im vertraulichen Gespräch sagten, lässt sich freilich nur punktuell rekonstruieren.

Ein Durchschnittsbeamter hätte sich vielleicht vor allem auf den inhaltsarmen und mit viel Vorsicht formulierten amtlichen Schriftverkehr verlassen. Die Aktenstücke, die Althoff auf dem gewöhnlichen Dienstweg erreichten, hätten Althoff jedoch niemals in die Lage versetzt, selektiv, inhaltlich akzentuierend in den Wissenschaftsbetrieb eingreifen zu können. Dazu bedurfte es vieler unverblümter Meinungsäußerungen von Partnern, die kein Blatt vor den Mund nahmen. Partnerschaft war in der Tat das Grundverhältnis, das Althoffs Wechselbezie­hungen mit seinen Beratern bestimmte. Diese Beziehungen entfalteten sich auf einem stabilen Boden: Beide Seiten einte das Bekenntnis zur Monarchie, der Wunsch, dem wilhelminischen Deutschland noch mehr wissenschaftliches Gewicht zu verleihen, und das Interesse, Wissen­schaft über den eigenen unmittelbaren Arbeitsbereich hinaus zu gestalten. Auf diesem Hinter­grund wurden Interessendifferenzen ausgetragen und Richtungen gemeinsamen Handelns gefunden. Wenn Althoff seine Partner in Dienst nahm, so ließ er sich umgekehrt von ihnen in Dienst nehmen.

Dieses gegenseitige Geben und Nehmen könnte man hundertfach belegen. Betrachten wir pars pro toto den Mathematiker Felix Klein, denn Althoff so sehr schätzte, dass er ihm noch am 12. September 1908, etwa einen Monat vor seinem Tod und schwer von seinem Leiden gezeichnet, einen Besuch in Göttingen abstattete_ um sich nach dem Fortgang seiner Arbeiten zu erkundigen. Klein, dem Althoff 1885 den Übergang von Leipzig nach Göttingen ermög­licht hatte, war ein Protagonist der angewandten Mathematik und ein Verfechter der engen Verbindung von Mathematik, Naturwissenschaften und Technik. Sein ehrgeiziges Ziel, Uni­versitäten und Technische Hochschulen zu verschmelzen, war unter den Hochschullehrern jener Zeit nicht konsensfähig, aber Schritte in diese Richtung konnten immerhin unternom­men werden. In Göttingen war Klein für Althoff wertvoll, weil dieser damit seine strategische Absicht, die preußischen Universitäten durch fachliche Schwerpunktbildung zu profilieren, wesentlich voranbringen und den mathematisch-physikalischen Akzent Göttingens stärker ausprägen konnte. Für Klein war die enge Beziehung zu Althoff entscheidend, um gegen den hinhaltenden Widerstand seiner Fakultät die Verbindungen zur Technik und zur Industrie aus­zubauen. In diesem fruchtbaren Ehrgeiz Kleins sah Althoff wiederum einen Weg, privates Kapital für die Wissenschaftsförderung zu akquirieren und damit ihren Spielraum zu erwei­tern. So entstand 1898 die aus Industriellen und Wissenschaftlern bestehende „Göttinger Ver­einigung", deren Vorsitzender der mit Althoff befreundete Chemieindustrielle Henry Theodo­re Böttinger wurde, während Klein dessen Stellvertretung übernahm. Diese Vereinigung, die durchaus als eine Art experimenteller Vorstufe der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft angesehen werden kann, hat in Göttingen die Bildung einer größeren Zahl von Instituten angewandten Profils ermöglicht.

Die Betrachtung solcher Symbiosen führt das Zerrbild ad absurdum, Althoff habe seine Bera­ter zu servilen Zuträgern abgerichtet. Dieses Zerrbild hielt sich indes hartnäckig, auch noch weit über Althoffs Tod hinaus, und steigerte sich bisweilen gar zu übler Nachrede, wie man sie etwa noch in den 1946 erschienenen Memoiren des Berliner Philosophen und Psychologen Max Dessoir findet, der Althoff sogar die Schuld an der Anfälligkeit deutscher Wissenschaft­ler für den Nationalsozialismus in die Schuhe schieben wollte: „...wir verlernten, wie freie Männer zu reden und zu handeln, lebten selbst noch nach Althoffs Tod weiter in der ,Furcht des Herrn' und schwenkten schließlich gehorsam um, als der Nationalsozialismus uns ‚auszu­richten' begann". Indes hätte Althoff charakterlose Liebedienerei am wenigsten brauchen können. Sie lag einfach unter dem Niveau seiner Wissenschaftspolitik. Er benötigte vielmehr souveräne, fordernde und insofern auch unbequeme Partner, die sein Denken in Bewegung hielten, so wie umgekehrt auch er selbst anderen kein bequemer Partner war und sein wollte.

Den Vorwurf, jenen Hunderten von Wissenschaftlern, die zu Althoffs Beraterkreis gehörten, hätten noch größere Kontingente gegen-übergestanden, denen auf den Entwurf und die Praxis der preußischen Wissenschaftspolitik kein vergleichbarer Einfluss eingeräumt war, kann man nicht einfach von der Hand weisen. Das Faktum trifft zu, doch der Vorwurf ist unhistorisch. Wann hätte es zuvor irgendwo eine staatliche Wissenschaftsverwaltung gegeben, an der ein so großer Kreis von Wissenschaftlern mitgestaltend beteiligt war? Insofern wäre ich geneigt, das „System Althoff' einen bedeutenden Fortschritt in der Demokratisierung der Wissenschafts­verwaltung zu nennen — gemessen natürlich an dem, was vorher war, und nicht an einem abstrakten Demokratieideal. Wenn Althoff, wie ihm häufig vorgehalten wurde, ein autokrati­sches Regiment geführt hat, so war es jedenfalls eine aufgeklärte, partizipative Autokratie.

Vierter Schritt. Wie vermochte es Althoff, seine Wirksamkeit zu multiplizieren oder zu po­tenzieren? Seine eigenen, unmittelbaren Handlungsmöglichkeiten waren groß, aber dennoch sehr viel geringer als das, was er tatsächlich bewirkt hat. Es waren die Möglichkeiten eines begabten und erfahrenen Fachmanns, der sich strenger Selbstdisziplin oder gar Selbstausbeu­tung unterwarf, für den die Arbeitstage kein Ende kannten und für den selbst jeder Sanatori­umstag ein Arbeitstag war. Mehr erreichen konnte er nur, indem er die Kräfte anderer für sei­ne Zwecke in Bewegung setzte. Diese Aussage will freilich sorgfältig interpretiert werden. Tun wir dies an einem Beispiel.

Hermann Diels, der berühmte Gräzist und zu jener Zeit Rektor der Berliner Friedrich-­Wilhelms-Universität, schrieb am 16. Februar 1906 einen Brief an Althoff, in dem die folgen­de bemerkenswerte Passage steht: "Natürlich bleibt die leitende Hand im Verborgenen. Ich drücke sie aber mit Dankbarkeit...- Die „leitende Hand" war natürlich die Hand Friedrich Althoffs, und die Angelegenheit, um die es ging, war eine Immediateingabe an Wilhelm II., unterzeichnet von Diels und weiteren prominenten Professoren, in der die Berliner Universität ihre Vorstellungen über ihren künftigen Raumbedarf darlegte. Althoff hatte sie dazu veran­lasst. Den Entwurf hatte er sich im Januar von Diels zusenden lassen, und Althoff wiederum übermittelte über seinen Mitarbeiter Friedrich Schmidt-Ott Abänderungsvorschläge an Diels. Der zitierte Brief aus der Feder von Diels ist dessen Antwort auf die Vorschläge. Obwohl Althoff den Vorstoß wesentlich arrangiert hatte, tauchte sein Name in der Eingabe nicht auf. Es erschien offenkundig taktisch klüger, sie als eine rein universitäre Meinungsäußerung an den Monarchen zu adressieren.

Agierten hier Diels und die übrigen Professoren womöglich als bloße Werkzeuge Althoffs? Die Interessenkonstellation ist ganz klar und übersichtlich. Althoff wollte seinen ehrgeizigen Plan, einen möglichst großen Teil der zu der vormaligen königlichen Domäne Dahlem bei Berlin gehörigen Ländereien der lukrativen Aufsiedelung in private Villengrundstücke zu entziehen und für Wissenschaftszwecke reservieren zu lassen, durch die Artikulation von Ter­rainansprüchen wissenschaftlicher Interessenten fördern. Die Universität aber bedurfte drin­gend neuer Grundstücke und Gebäude; angesichts der raschen Zunahme der Studentenzahlen und der fortlaufenden Gründung neuer Institute litt sie unter dramatischer Raumnot. So or­chestrierte und dirigierte Althoff Forderungen der Wissenschaftler, doch er tat es, indem er deren Eigeninteressen respektierte und zum Ausgangspunkt nahm, um ein Handlungsfeld zu bestimmen, auf dem die Interessen der staatlichen Wissenschaftsverwaltung und jene der Universität zusammenfielen. Dieser partnerschaftliche Umgang mit den Wissenschaftlern, der auch der Arbeitsweise seines Beraternetzes zugrunde lag, beruhte auf dem Auffinden und Ausnutzen von Interessenkongruenzen. Auf dieser Basis konnte Althoff ohne weiteres kon­zertierte Aktionen in die Wege leiten. Sein Dirigat war — wenn man es so ausdrücken darf — kein Dirigismus, der das Eigeninteresse der Mitwirkenden ignoriert, sondern das genaue Ge­genteil. Vielleicht kam hier der besondere Vorteil des Juristen zum Zuge, dessen fachliches Können auf das Aufspüren und die Vermittlung von Interessendifferenzen gerichtet ist, ganz gleich, welche konkreten Inhalte die jeweils zu vermittelnden Interessen auch immer haben mögen.

Fünfter Schritt. Gibt es nach alledem einen bestimmten Brennpunkt, auf den dieses flexible und dynamische Gewebe von Handlungsorientierungen und Handlungen gerichtet war? Althoff und seine Mitarbeiter im Kultusministerium hatten, wie jede Wissenschaftsverwal­tung, natürlich auch mit allen unpersönlichen Sachaspekten des Wissenschaftsbetriebes zu tun, mit Budgets und Statuten, Statistiken und Berichten, Vorschriften und Vereinbarungen, Neugründungen und Umstrukturierungen und dergleichen mehr, und das im Übermaß. Althoffs Format zeigte sich nicht zuletzt darin, sich von dieser Flut von Anforderungen nicht erdrücken zu lassen, sondern unbeirrt daran festzuhalten, dass es in der Wissenschaft zuerst und vor allem auf ehrgeizige, schöpferische Menschen ankommt, denen anspruchsvolle Auf­gaben gegeben werden müssen, an denen sie wachsen, und Freiräume, in denen sie sich ent­falten können. Deshalb stellte er ohne Wenn und Aber die Personalpolitik in das Zentrum seines Tuns und maß alle sonstigen Geschäfte der Wissenschaftsverwaltung daran, inwieweit sie der Entdeckung. Förderung und Entfaltung von Begabungen dienen. Nicht zufällig hat ein sehr großer Teil seines Nachlasses mit Berufungsvorgängen und dem Bemühen zu tun, über jeden einzelnen Kandidaten ein möglichst genaues und umfassendes Urteil zu gewinnen. Komplementär dazu ließ er komplette Übersichten über den Personalbestand auf bestimmten Fachgebieten im Deutschen Reich und in Österreich anfertigen.

Althoff war ein Meister in der selektiven Förderung von Personen, und wenn es ihm mit Hilfe seiner Berater gelungen war, aussichtsreiche Begabungen zu finden, dann scheute er oftmals keine Mühe, um ihnen zu maßgeschneiderten, ganz auf die Individualitäten zugeschnittenen Karrierepfaden zu verhelfen. Das wohl anrührendste Zeugnis eines Gelehrten, der Althoffs fördernde Zuwendung in dieser Intensität erfahren hat, stammt von dem Mediziner Paul Ehr­lich, der als ungetaufter Jude auch bei größten wissenschaftlichen Meriten in Preußen keine Chance auf eine normale Universitätslaufbahn hatte. Die folgenden Worte stehen in einem Brief, den Ehrlich im Sommer 1907, als Althoff offiziell in Pension ging, an diesen richtete: „Als Assistent herumgeschubst. in die engsten Verhältnisse eingezwängt — von der Universi­tät absolut ignoriert — kam ich mir ziemlich unnütz vor. Ich habe nie einen Ruf an die kleinste Stellung erhalten und galt als ein Mensch ohne Fach — d.h. als vollkommen unverwertbar. Wenn Sie da nicht mit starker Hand und genialer Initiative für mich eingetreten wären, wenn Sie mit nicht mit rastlosem Eifer und gütiger Freundschaft die Arbeitsmöglichkeiten zurecht gemacht hätten, unter denen ich mich entwickeln konnte, wäre ich vollkommen brachgelegt gewesen".

Der gleiche Brief enthält auch eine Passage, in der Ehrlich, der ein Jahr später mit dem No­belpreis geehrt wurde, Althoffs Bedeutung für die Wissenschaft im Ganzen würdigte. „Was Sie Unvergängliches geschaffen haben, ist den führenden Geistern wohl schon längst voll bewusst und wird in Zukunft — wenn erst das Tagesgeschrei der Parteien verstummt sein wird — Allgemeingut werden. Sie haben den Fortschritt der Wissenschaft auf allen Gebieten mehr gefördert als irgendein anderer...- Über große Forscher wird dergleichen manchmal gesagt, für Wissenschaftspolitiker haben solche Komplimente absoluten Seltenheitswert. Und den­noch können, das lehrt uns Althoff, Wissenschaftspolitiker ebenso kreativ sein wie Hoch­schullehrer und Forscher. Warum auch sollte man jene, die Türen öffnen und Wege bahnen, weniger schätzen als jene, die durch die geöffneten Türen gehen und die gebahnten Wege beschreiten? Aber da ist ein enormer Unterschied: Mit den Lebensläufen berühmter Gelehrter lassen sich ganze Bibliotheken füllen, mit den Biographien berühmter Wissenschaftspolitiker kaum mehr als ein schmaler Band. Zu dieser raren Spezies gehört Friedrich Althoff. Die Stadt Dinslaken, verehrte Anwesende, hat der Wissenschaft im alten Preußen, in Deutschland und in der Welt einen großen Mann geschenkt, der unvergessen bleibt. Seien sie stolz auf ihn, und seien Sie stolz auf Ihre Stadt!

Anlass:

Aufstellung der Büste von Friedrich Althoff

Datum:

26.02.1996

Ort:

Rathaus Dinslaken

Autor:

Prof. Dr. Bernhard vom Brocke

Sehr geehrter Herr Bürgermeister!
Sehr geehrte Festversammlung!


Wir ehren heute einen Sohn Ihrer Stadt, der am 19. Februar 1839, also vor 157 Jahren in diesem Hause, dem alten Dinslakener Kastell, geboren wurde.

Es ist schon etwas Ungewöhnliches, daß in den letzten Jahren gleich zwei Städte Ihres Bürgers mit Aufstellung einer Büste gedenken, zum einen die Stadt Berlin, in der Althoff die letzten 25 Jahre seines Lebens lebte und am 20. Oktober 1908 mit 69 Jahren verstarb, zum anderen die Stadt Dinslaken, in der er 1839 geboren wurde. Schon 1907 hat, wie wir eben hörten, die Stadtverordnetenversammlung der Stadt Dinslaken eine Straße nach Althoff noch zu seinen Lebzeiten benannt. 1910 folgte, zwei Jahre nach seinem Tod, die Stadt Steglitz bei Berlin, heute Berlin-Steglitz, mit der Benennung der Althoff-Straße, die im Althoff-Platz, einem kleinen Park endete. In diesem errichtete sie eine Bronze-Büste auf steinernem Sockel hinter einer marmornen Bank, die den eilig hastenden Großstädter Ruhe bot. Das Denkmal wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört, die Büste vermutlich eingeschmolzen. Aber vor fünf Jahren wurde der Platz in den alten Zustand versetzt und im Mai 1991 die neu gegossene Büste wieder aufgestellt. Der Abguß wurde beide Male -1910 und 1991 - von der Berliner Traditionsgießerei Noack nach der Büste angefertigt, die der Bildhauer Fritz Schaper im Auftrag Kaiser Wilhelms II. noch zu Lebzeiten Althoffs aus carrarischem Marmor meißelte. Die Marmorbüste ist zum 70. Geburtstag des Verstorbenen 1909 in der Nationalgalerie enthüllt worden. Auch der heute hier zu enthüllenden Bronzebüste hat Schapers Meisterwerk als Vorlage gedient, auch sie ist bei Noack gegossen worden.

Wir wollen uns fragen, warum diese Ehrungen in den letzten Jahren nach jahrzehntelangem Schweigen? Nur zu Althoffs 50. Todestag, am 20. Oktober 1958, waren in einem seltenen, von der Öffentlichkeit freilich kaum zur Kenntnis genommenen Akt historischer Würdigung von der Bundesregierung, dem Land Berlin, von Rektor und Senat der Freien Universität und dem Präsident der Max-Planck-Gesel lschaft Otto Hahn, vertreten durch Max von Laue, Kränze an Althoffs Grab und Grabmal im Berlin-Dahlemer Botanischen Garten niederlegt worden. In der Hochschulreformdiskussion der 50er und 60er Jahre war die Gestalt Althoffs durchaus noch lebendig. Sein 75. Todestag im Jahre 1983 dagegen wurde schweigend übergangen.

Es ist schon etwas Ungewöhnliches um diesen Mann: Über ein Vierteljahrhundert hat er unter fünf Kultusministern als Vortragender Rat für die Universitäten und dann als Ministerialdirektor im Preußischen „Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten“ gedient. Er war nie selber Minister oder Staatsskretär, obwohl er es hätte werden können. Aber man nannte ihn Preußens „heimlichen Kultusminister“ und „Bismarck des Hochschulwesens“. Als solcher hat er maßgeblich dazu beigetragen, daß Deutschlands höhere und hohe Schulen, Akademien, Kliniken, Laboratorien und Forschungsinstiute Weltgeltung behielten.

Warum heute diese Ehrung in Dinslaken? Warum fand der Vorschlag des Nestors der Dinslakener Geschichte, Willi Dittgen, Ihr neues Mädchengymnasium nach Friedrich Althoff zu benennen, im Jahre 1968 keine Resonanz? Obwohl ihm die Frauen in Preußen die Zulassung zur höheren Schulbildung und zum Hochschulstudium verdankten Und warum fanden erst aus Anlaß des 150. Geburtstags im Jahre 1989 drei wissenschaftliche Kongresse statt? Den ersten veranstaltete im Juni 1989 die Akademie der Wissenschaften der Noch-DDR in Ost-Berlin, die frühere Preußische Akademie, deren Ehrenmitglied Althoff war. Obgeich Althoff dort jahrzehntelang als führender Vertreter des Staats-monopolistischen Kapitalismus bezeichnet worden, der das Ziel verfolgt habe,

„Forschung und Hochschulbildung den sozialökonomischen und ideologischen Bedürfnisen der imperialistischen Bourgeoisie anzupassen“. Es folgten im Juli desselben Jahre ein internationales Symposium in Heilbronn mit zahlreichen amerikanischen Gelehrten in englischer Sprache über „The Althoff System“ und im Mai 1990 ein internationales Symposion in Bad Homburg. Alle drei Tagungen haben sich in drei gewichtigen Büchern und zwei Doktorarbeiten niedergeschlagen.

Althoff hat wie gesagt maßgeblich dazu beigetragen, daß Deutschlands höhere und hohe Schulen, Akademien, Kliniken, Laboratorien und Forschungsinstitute Weltgeltung behielten und erwarben. Von diesem geistigen Kapital zehren wir als rohstoffarmes Land noch heute. Aber wie lange noch? War es doch neben den Produktivkäften Boden, Kapital und Arbeit nicht zuletzt die „Produktivkraft Wissenschaft“, die Deutschlands wirtschaftlichen Wiederaufstieg nach zwei Weltkriegen ermöglichte. Für uns heute gehört Friedrich Althoff neben Wilhelm von Humboldt(1767-1835) und Carl Heinrich Becker (1876-1933) sowie Althoffs Schüler und Mitarbeiter Friedrich Schmidt-Ott (1860-1956) zu den großen Kulturpolitikern und Wissenschaftsadministratoren, die Preußen-Deutschland hervorgebracht hat: Humboldt im Geiste der Aufklärung, als nach der Nie derlage Preußens gegen die Freiheitsparole der Französischen Revolution und das Frankreich des Ersten Napoleon das Königswort von Memel (1807) den Reformern freie Hand gab („der Staat muß durch geistige Kräfte ersetzen, was er an physischen verloren hat“); Althoff nach dem siegreichen Krieg gegen das Frankreich des Dritten Napoleon in einem Zeitalter wirtschaftlicher Prosperität, des Übergangs von der Agrar- und Ständegesellschaft zur kapitalistischen Industrie-gesellschaft; der letzte Kgl. Kultusminister und Schöpfer der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und der Notgemeinschaft Deutscher Wissenschaft Friedrich Schmidt-Ott und der preußische Kultusminister in der Weimarer Republik Carl Heinrich Becker mit dem Ziel, die Folgen eines verlorenen Krieges zu überwinden, die deutsche Wissenschaft aus ihrer internationalen Isolation zu befreien. 1

Ich möchte zunächst Althoffs Leben und Werk skizzieren, bevor ich dann einige Aspekte seines Werks, Leitideen und Ziele hervorheben.

I. Friedrich Althoff: Leben und Werk

Im Jahre 1929 begann Willy Hellpach, Heidelberger Psychologieprofessor, demokratische Reichstagsabgeordneter und vormaliger badische Unterrichtsminister und Staatspräsident, mit den Worten:

„Ein Dämon hat über 25 Jahre lang der Pflege und Lehre deutscher Wissenschaft seine Spuren eingraben dürfen. In einem Zeitalter, da leitendes Wirken im Staate mehr und mehr wieder dem Büro-, Kasernen -oder Schloßadel vorbehalten wurde, kam er, bürgerlichen Namens, aus Deutschlands bürgerlichster Gegend, Preußens bürgerlichster Provinz, vom Niederrhein, und wenn er schon der Exzellenz nicht entgehen konnte, so ist er doch auch auf dem Gipfel seiner Macht nicht nobilitiert worden.“

Althoff ließ andere nobilitieren.

Althoff wurde am 19. Februar 1839 auf dem alten Kastell in Dinslaken - einer Schloßbesitzung der Familie der Mutter -als Sohn des damals 54jährigen preußischen Domänenrates Friedrich Theodor Althoff und seiner zweiten Frau, der 37jährigen Julie von Buggenhagen geboren. Väterlicherseits kam er aus westfälischer Beamten- und Pfarrersfamilie bäuerlichen Ursprungs. Mütterlicherseits war er ein Enkel des Preußischen Kriegsministers und vorherigen Regierungspräsidenten von Cleve, Julius Ernst von Buggenhagen, aus pommerschem Uradel. Die Herkunft aus bürgerlicher und adeliger Familie teilte Althoff mit Bismarck. Sie mag ihm die geistige Unabhängigkeit und Souveränität gegeben haben, seine Ziele gegen Hoch- und Niedrig in der Stände- und Klassengesellschaft des wilhelminischen Obrigkeitsstaats durchzusetzen. 

Die kluge, temperamentvolle, tief religiöse Mutter zog nach dem Tod des Gatten 1852 mit dem 13jährigen Sohn nach Wesel, damit dieser dort das Gymnasium besuchte und mit 17 1/2 Jahren das Abitur ablegte. Nach dem Studium der Rechte in Bonn, unterbochen von einem Semester in Berlin, war Althoff Referendar an rheinischen Gerichten und am Berliner Kammergericht. Nach dem ersten Examen im November 1861 verlobte sich der 23jährige mit der 19jährigen Marie Ingenohl in Neuwied, einem Mädchen von großer Zartheit und Anmut. Zweieinhalb Jahre später heirateten sie in Ehrenbreitstein.

Die Ehe bot dem Rastlosen offensichtlich Ruhe, Hilfe und Stütze. Sie war nach den Maßstäben der Zeit glücklich, aber kinderlos, vielleicht ein Grund für den späteren Arbeitsfanatismus. Seine Frau aber litt. Nie wußte sie, wann er von den Amtsgeschäften heimkehren, nie, wann er mit der nächtlichen Arbeit aufhören, selten, wen er ihr als Gast zuführen würde. Sie ertrug seine Unpünktlichkeit und seine Wunderlichkeit, ihre Einsamkeit mit immer gleicher Liebe und Geduld; sie lebte das Los vieler Frauen bedeutender Männer bis in unsere Zeit. An einem der letzten Geburtstage schrieb sie ihm diese Verse:

Große Wünsche für Dich hab ich nicht mehr.
Genug der Erfolge, genug der Ehr!
Nur ein paar Jahre zwischen Gott und der Welt
Zu leben wie Du es Dir vorgestellt.
Das wäre für mich wieder glückliche Zeit
Nach zwanzigjähriger Einsamkeit.

Sie hat, in der Berliner Zeit schweren nervösen Herzanfällen unterworfen, viele Monate des Jahres in Meran, Martinsbrunn und anderen Sanatorien verbracht. Althoff in Meran, Wiesbaden, Kissingen, meist in seinem geliebten Schierke im Harz, so daß in den letzten Jahren 2 1/2 Haushalte finanziert werden mußten, wie er 1904 einem Freunde schrieb. Er, der gewohnt war, Summen von Hunderttausenden und Millionen bei Industriellen und Bankdirektoren für die Wissenschaft flüssig zu machen, mußte, wieder einmal in größter Geldverlegenheit, um ein Darlehen von 900-1200 Mark bis zum nächsten Quartalsgehalt bitten2; Marie Althoff wurde nach dem Tode ihres Mannes gesund; sie überlebte ihn um 17 Jahre und sorgte für sein Ansehen durch die Sammlung und Ordnung des heute wieder im Preußischen Geheimen Staatsarchiv zugänglichen Nachlasses und die Herausgabe von 3 Büchern: Aus Friedrichs Althoffs Jugendzeit, aus seiner Straßburger Zeit und aus seiner Berliner Zeit.

1870 ließ sich Althoff als Rechtsanwalt in Köln nieder. Er schwankte lange zwischen praktischer Tätigkeit oder einer wissenschaftlichen Laufbahn. Die Doktorarbeit war noch nicht fertig, als sich ihm nach der Rückkehr aus dem deutsch-französischen Krieg, an dem er als Sanitäter teilhahm, die Chance bot, beide beruflichen Wege zugleich zu erkunden. Mit dem Ziel war, an der in Straßburg geplanten Reichsuniversität die Hochschullehrerlaufbahn

einzuschlagen, trat Althoff 1871 als Justitiar und Dezernent für Kirchen- und Schulsachen in die Verwaltung von Elsaß-Lothringen ein. In Oberpräsident Eudard von Möller und dem Kommissar für die Universitätsgründung, dem ehemaligen badischen Ministerpäsidenten, Bismarck-Gegner und Katholiken Frhr. v. Roggenbach fand er zeitlebens verehrte Lehrmeister. Beide waren erklärte Liberale. Möller, der als Regierungspräsident von Köln im Revolutionsjahr 1848 und dann als erster Oberpärsident von Hessen-Nassau in Kassel viel zur Versönung der neuen Provinzen mit dem alt-preußischenStaat begetragen hatte, galt als der beste preußische Verwaltungsfachmann der Zeit und zog Althoff zu fast allen Arbeiten heran, die die Einrichtung der deutschen Verwaltung in den Reichslanden mit sich brachte.

Das, was man später „System Althoff“ nannte, wurde in Straßburg geboren. Hier war Althoff in der Doppelstellung des Verwaltungsbeamten und Hochschul-lehrers, maßgeblich an der Gründung der Universität und der Berufung der Professoren beteiligt. Hier hat Althoff seit 1872 als a. o. und 1880 o. Professor für französisches und modernes Zivilrecht die Erfahrungen gesammelt, die er ab 1882 von Berlin aus verwirklichte. Er war zudem Professor geworden, ohne je eine Doktorarbeit oder Habilitationsschrift vorlegt zu haben. Auch das ist ungewöhnlich genug.

In Straßburg gewann Althoff einige seiner wichtigsten späteren Berater und Freunde, so den Nationalökonomen und Kathedersozialisten Gustav Schmollet (1838-1917), an dessen Berufung er mitgewirkt hatte. Der spätere Chef des Kaiserlichen Geheimen Zivilkabinetts Rudolf von Valentin! (1855- 1925) war Althoffs Schüler.3

Von 1882 bis zu seinem Abschied am 1. Oktober 1907 hat Althoff in Berlin unter fünf Kultusministern zuletzt autokratisch das preußische Hochschulwesen regiert, die ersten 15 Jahre nur einer unter 33 Vortragenden Räten, auch das letzte Jahrzehnt nur einer von vier Ministerialdirektoren. Seit 1896 unterstanden ihm als Ministerialdirektor und Leiter der Ersten Unterrichtsabteilung Hochschulen, wissenschaftliche Anstalten, Bibliotheken, Kunstakademien, Museen, Denkmalpflege, das höhere Schulwesen -und ab 1900 auch die medizinischen Wissenschaften. Nach seinem Ausscheiden wurde sein Ressort, da kein einzelner mehr der Arbeitslast gewachsen war, unter vier Abteilungsdirigenten geteilt. Daneben blieb Althoff nominell weiterhin Hochschullehrer. Er wurde 1891 o. Prof, in Bonn, 1896 o. Hon. Prof. in Berlin, 1904 Exzellenz, 1907 Wirkl. Geh. Rat. Nach seinem Abschied wurde der fünffache Ehrendoktor und Ehrenmitgled der Akademien zu Berlin, Göttingen und Erfurt von Wilhelm II. zum Kronsyndikus, also zum juristischen Berater der Krone, ernannt und auf Lebenszeit ins preußische Herrenhaus berufen. Unter Althoffs Leitung vollzog sich der Ausbau des Hochschulwesens zum zentral gelenkten und mit den Mitteln der Durchstaatlichung und Bürokratisierung vorangetriebenen „Großbetrieb“. Grundlage bildeten die von ihm begründeten Universitätsstatistik, jährliche Universitätschroniken und die 1898 von ihm ins Leben gerufene jährliche „Konferenz von Vertretern deutscher Regierungen in Hochschulangelegenheiten“ unter Einschluß Österreichs. Sie war der Vorläufer der heutigen Kultusministerkonferenz der Länder, die 1998 ihr hundertjähriges Bestehen feiern wird.

Alles das geschah nicht ohne scharfe Konflikte mit dem Selbstverwaltungsprinzip der Universitäten. Gegen ihren Widerstand setzte Althoff 1899 die Gleichstellung der Technischen Hochschulen und 1900 der drei höheren Schularten (Gymnasium, Realgymnasium, Oberealschule) im Hinblick auf den Zugang zum Universitätsstudium durch. Schließlich erreichte er auf der Frauenschulkonferenz von 1906 auch den Zugang der Frauen zu den höheren Schulen und zum Studium. Diese scheinbare Selbstverständlichkeit wirft Licht auf Althoffs Arbeitsweise. Denn das Mädchen-schulwesen gehörte nicht in sein Ressort, sondern in die Niedere Unterrichtsabteilung des Ministeriums zusammen mit dem Volksschulwesen, den Taubstummen- und Idiotenanstalten. Aber die Führerinnen der Frauenbewegung wandten sich, da er im Rufe stand, das Unmögliche möglich zu machen, über die Kaiserin an ihn und er hatte, mit der Materie bestens vertraut, schon in den 1890er Jahren Professoren mit dem Speziauftrag in die USA geschickt, festzustellen, ob Frauen zum Studium der Mathematik und Naturwissenschaften geeignet seien, was in Deutschland von vielen Professoren bestritten wurde. Neue Althoff beschrittene Wege der Organisation und Finanzierung durch von privates Kapital nach ausländischem Vorbild mündeten 1911 in die Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, der heutigen Max-Planck-Gesellschaft.

Virtuos und einfallsreich waren Althoffs Wege und Methoden, Gelder für die Finanzierung von Wissenschaft und Kultur zu gewinnen. Er reiste den Kultusministern in den Urlaub nach, um seine Ziele zu erreichen. Als in Marburg 100.000 DM zum Bau einer Universitätsklinik fehlten, streckte Althoff das Geld im Namen des Berliner Zeitungsverlegers August Scherl vor, der davon nichts wußte, aber dafür bekannt war, daß er Orden sammelte. Scherl verlangte den Roten Adler Orden, der Kaiser bewilligte nur den Kgl. Kronenorden. Scherl zog seine Geldzusage zurück. Die Situation schien aussichtlos verfahren. Aber Althoff reiste zu seinem badischen Kollegen Dr. Böhm nach Karlsruhe, versprach einen berühmten Heidelberger Professor nicht nach Berlin abzuwerben, machte einige Tauschgeschäfte und erhielt für Scherl vom Badischen Großherzog das Großkreuz des Zähringer Löwen. Daraufhin konnte dieser nicht mit einem niedriger eingestuften preußischen Orden abgefunden werden und erhielt den ersehnten Roten Adler. Der Bau der Klinik war gesichert. 1902 errichtete Althoff unterUmgehung des Landtags und des Finanzministers die erste Professur für Hals-, Nasen-, Ohrenkrankheiten mit dem Ruhegehalt eines außerordentlichen Professors der Anatomie, der sehr reich war und gegen Verzicht auf die Pension zum Persönlichen ordentlichen Professor ernannt wurde.

Die Voraussetzung von Althoffs Einfluß über die Grenzen seines Ressorts und Preußens hinaus war ein engmaschiges personales Beziehungsgeflecht von Vertrauensleuten, das sich schließlich in alle Bereiche der Verwaltung und des öffentlichen Lebens erstreckt, in die Hochschulen, das kaiserliche Zivilkabinett, Ministerien, Kirchen, Parlamente, Parteien, Presse und die Kreise der Hochfinanz und das Kritiker wie Max Weber kurz „System Althoff“ nannten.

II. Aspekte seines Werks, Leitideen und Ziele

Wenn es Althoff aus einer Beamtenstellung gelang, zu „Preußens heimlichem Kultusminister“ (Neue Zürcher Zeitung, 28.9.1907) und „Bismarck des Hochschul-wesens“ (Vossische Zeitung, Berlin, 19.10.1918) zu werden, so verdankte er das einer ungewöhnlichen Kombination persönlicher Eigenschaften, nämlich Intelligenz und Phantasie, gepaart mit Fleiß und Energie, Zivilcourage, Uneigennützigkeit, diplomatischem Geschick und einer guten Portion Ver-schlagenheit. Er konnte zehn Schreibern simultan diktieren -die Schreibmaschine wurde erst um 1910 eingeführt- und er hatte als Regierungskommissar in den Debatten des Parlaments meist die Lacher auf seiner Seite. Sein Hauptfehler war seine notorische Unpünktlichkeit, über die schon Schmoller 1882 an den Kultus-minister schrieb, er werde in alle Sitzungen zehn Minuten bis eine Stunde zu spät kommen. Sie hat ihm offenbar nicht geschadet. Mit Recht sahen viele Professoren das stundenlange Warten über die vereinbarte Zeit hinaus in dem berüchtigten fensterlosen Wartezimmer des ständig Überlasteten im Kultusministerium als eine Rücksichtslosigkeit an.4 Im übrigen läßt sich durch manches Beispiel belegen: Wer das erstemal nach einer halben Stunde wegging, wurde das nächstemal pünktlich vorgelassen.

Urwüchsiger Humor, amüsanter Witz, Zivilcourage, das Fehlen jeder persönlichen Eitelkeit und kluge Planung gewannen Althoff die Gunst Wilhelms II. Sie bot ihm in der konstitutionellen Monarchie Rückhalt gegen alle Angriffe der Universitäten, des Parlaments, der Presse und Bürokratie, sie wußte er geschickt für seine Pläne nutzbar zu machen, sei es beim Vortrag in Potsdam, bei Einladungen zu Abendessen im kaiserlichen Familienkreis, in Gesprächen mit der Kaiserin oder 1905 auf der Mittelmeerreise des Kaisers mit der Yacht Hohenzollern. Auch auf dieser setzte sich Althoff in für ihn typischer Weise über die Formen höfischen Verkehrs hinweg: Allem Pompösen abgeneigt, nahm er an dem feierlichen Einzug in Tanger nur privatissime unter der Zuschauermenge teil; das Pferd mit der Aufschrift „Althofff“ mußte nach der Landung von Valentini besteigen. Spätestens seit der Schulkonferenz von 1900 läßt sich das ganz ungewöhnliche direkte Vortragsrecht -unter Umgehung des Ministers- beim Kaiser nachweisen. In Wilhelms II. Lebens-erinnerungen wird von den hunderten höheren Beamten Preußens nur der „geniale Ministerialdirektor Althoff“ erwähnt. 5

Mit der Hilfe des Monarchen als der wichtigsten Figur auf dem Schachbrett seiner internationalen Wissenschaftspolitik begann Althoff in den 90er Jahren zu einer Zeit, da die deutsche Politik ohne herausragende Politiker ziel-und richtungslos war, seine Vision zu verwirklichen: das Weltreich deutschen Geistes in Wissenschaft und Kultur.

Die Wertvorstellungen, die Althoffs politischen Standort und sein Wirken bestimmten, waren Nationalstaat. Humanität und Toleranz. Sein wissenschafts-politisches Ziel war, für Deutschland und besonders für Preußen die führende Stellung in Wissenschaft und Hochschulwesen erringen und erhalten -freilich nicht im Sinne eines Hurra-Patriotismus; denn dazu war er zu sehr rheinischer Bürger, aufgewachsen unter Protestanten, Katholiken und Juden, die, wie er einmal betonte, in seiner Kindheit in Dinslaken einträchtig miteinander lebten. Und er war stolz darauf, gegenüber seinem Freunde und Berater, dem Philosophen und Erziehungs-wissenschaftler Friedrich Paulsen (1846-1908) von sich sagen zu können:6 „Ich habe in meinem Leben keine Hetze mitgemacht, keine Katholikenhetze und keine Judenhetze.“ Wir können hinzufügen: auch keine Sozialistenhetze.

Vielmehr versuchte er auch die „Partei des Umsturzes“ in seine Pläne einzuspannen. So bediente sich Althoff 1893 eines von der Sozialdemokratie zusammen mit den Ortskrankenkassen organisierten monatelangen Boykotts die unhaltbaren Zustände in den weltberühmten Berliner Chariteekliniken, um den Widerstand des Finanzministers gegen die Sanierung zu brechen, ohne daß es infolge der ablehnenden Haltung der Partei zu einem direkten Bündnis mit ihr kam. Diese Vorurteilslosigkeit „macht ihm kein zweiter Ministerialdirektor in Preußen nach“, schrieb 4 Tage nach seinem Tode der „Vorwärts“, als es ihm nicht mehr schaden konnte.7 Im übrigen gelang dann Althoff ab 1896 die Sanierung der Charitee, mit der alle seine Vorgänger gescheitert waren. Eine Preußische Staatsanleihe von 16 Millionen Goldmark = 130 Mill DM wurde per Gesetz aufgelegt. Der alte Botanische Garten der Universität wurdeaus dem dicht bebauten Schöneberg aufdie Kgl. Domäe Dahlem verlegt und aus dem Verkauf der Hälfte des Schöneberger Baulandes wurde die Anleihe zurückgezahlt.

Im Jahre 1905 weitete sich ein von Österreich ausgehender sog. „akademischer Kulturkampf“ um die Existenzberechtigung katholischer (und auch jüdischer) Studentenverbindungen unter Führung der Marburger Studentenschaft zu einem allgemeinen Konflikt um die „akademische Freiheit“ aus. Es kam zu Solidarisierungen zwischen den Studentenschaften und den mehrheitlich protestantischen Lehrkörpern der Hochschulen. Althoff setzte mit Energie und schließlichem Erfolg alle Machtmittel des Ministeriums für die Wiederherstellung des konfessionellen Friedens ein. Er lud die Vertreterder Studenten nach Berlin und versuchte, sie nach alter Korpsstudentenmanier im „Büdesheimer“, einem Weinlokal nahe dem Kultus-ministerium, unter den Tisch zu trinken. Den Studenten erklärte er mit unerbittlicher Liebenswürdigkeit, daß die Hochschulen jedem Studierenden die gleiche Freiheit gewährten, auch den Katholiken, den Juden und den Ausländern. Die Freiheit der einen dürfe nicht zur Unfreiheit der anderen führen. Zehn Tage später, am 23. Februar 1905, wiederholte Althoff seine Erklärung im Abgeordnetenhaus in einer auf-sehenerregenden Rede über die Geschichte der akademischen Freiheit seit dem 12. Jahrhundert.

Zwanzig Jahre später 1925 stand Kultusminister Carl Heinrich Becker betr. der Studenten jüdischer Konfession in einer ähnlichen Situation. Nur ließ er als Demokrat die Studentenschaften abstimmen und - unterlag; denn diese waren nicht bereit, den Ausschluß ihrer jüdischen Kommilitonen aus den Allgemeinen Studentenausschüssen rückgängig zu machen.8

Wie konnte Althoff diese Erfolge erringen? Eine Erklärung ist, daß er langfristig planen konnte; er hielt geduldig und zäh und mitunter über Jahre hinweg an seinen Projekten fest und ging innerhalb eines ganzen Heeres von

Beratern, die seine Pläne durch Denkschriften und Gutachten vertieften, vertrauliche, oft selbst den engsten Mitarbeitern verborgene Wege, ungern dann plötzlich an die Öffentlichkeit zu treten, wenn die Situation günstig schien, die Mehrheit im Landtag gefunden war, die Geldmittel und Mäzene bereitstanden. Obwohl er parteipolitisch zeitweise den Nationalliberalen nahestand und für diese 1878 und 1882 Reichstagskandidaturen erwog, gehörte er keiner Partei an, um sie alle -Nationalliberale, Fortschrittler, Konservative, Zentrum, selbst die Sozialdemokratie -besser für seine Pläne einspannen zu können. Manche Projekte wie die Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Jahre 1911 oder die Errichtung der ersten bürgerlichen Stiftungsuniversität auf deutschem Boden im Oktober 1914 in Frankfurt am Main, die er seit den 1890er Jahren vorbereitete, sind so erst nach seinem Tod zum Abschluß gelangt.

In seiner Berufungspolitik ließ sich Althoff gleichermaßen von den Interessen der Wissenschaft und denen des Staates leiten; der Abbau des Kulturkampfes durch die Berufung von Katholiken und die Überwindung des Klassenkampfes durch Förderung der sog. Kathedersozialisten auf den staatswissenschaftlich-nationalökonomischen gehörten zu seinen wichtigsten innenpolitischen Zielen.

In Preußen war es vor Althoffs Amtszeit für einen Sozialdemokraten unmöglich, für einen ungetauften Juden fast unmöglich, für einen Katholiken nur selten möglich, ordentlicher Professor, das heißt: königlicher Beamter, zu werden. Dafür sorgten schon die überwiegend protestantischen Fakultäten. Gegenüber den Fakultäten hat Althoff sich nicht gescheut, mit dem Mittel des Oktroi, häufiger jedoch, auf größtmögliche Effizienz und Reibungslosigkeit bedacht, mit Hilfe seiner Vertrauensleute die Berufung von Katholiken und auch Juden durchzusetzen, wobei er sich von den besten Fachleuten beraten ließ.

Nicht nur katholische, auch sozialdemokratische Blätter haben Althoffs Kampf gegen „Professorendespotismus und Cliquenwesen“ Lob gezollt. Häufiger als die offenen Konflikte waren die nicht an die Öffentlichkeit gelangten; das Überlistet werden wurde eines der stärksten Ressentiments gegen sein Regiment.

Althoffs Kritikern entgegnete der Nationalökonom und Kathedersozialist Werner Sombart am 4. August 1907 in der Neuen Freien Presse, Wien, dem großbürgerlich-liberalen Weltblatt der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, die liberalen Blätter wieder einmal den Kopf des angeblichen „Zentrums-Mannes“ Althoff forderten -mit der provokatorischen Frage:9

„Warum haben sich die Universitäten das gefallen lassen? [...]
Warum hat man es in unserer Zeit der Arbeitseinstellungen nie mit
dem Streik versucht? Oder mit der Niederlegung des Amtes? [...]
Am Ende hat auch jeder die Vorgesetzten, die er verdient. Und
Sklavenseelen gegenüber wird ein Starker unwillkürlich zum brutalen Herrenmenschen.

Sombart machte in seiner ebenso brillanten Analyse des „Systems Althoff' wie herben Zeitkritik, die damals von allen großen Zeitungen des Reichs bis hin zum sozialdemokratischen Vorwärts teils kommentarlos nachgedruckt, teils kritisch kommentiert wurde, für „die Vermehrung des Servilismus“ nicht den Ministerialdirektor, sondern „den allgemeinen Zug zum Reserve-leutnantstum, der unsere Zeit erfüllt“, verantwortlich; „das Überwuchern der materiellen über die ideellen Interessen; das Überangebot von Arbeitskräften auf dem Geistesmarkte“, mit anderen Worten: den ,Untertanen‘ Heinrich Manns.

Nicht von ungefähr fielen die ersten Nobelpreise für Medizin an in Preußen wirkende Gelehrte, denen Althoff die Forschungsmöglichkeiten eröffnete: der erste an Emil von Behring 1901, der fünfte an Robert Koch 1905, der achte an Paul Ehrlich 1908. Den genialen, aber unbequemen Militärarzt und akademischen Außenseiter Behring mußte der Hochschuldezernent nach dreimaliger Ablehnung 1895 der Marburger Medizinischen Fakultät oktroyieren, heute sind die Marburger stolz auf ihren größten Mediziner und verleihen den Emil-von-Behring-Preis. Vor der Entwicklung des Diphterieheilserums durch Behring und und seiner klinikreifen Weiterentwicklung durch Paul Ehrlich starben in Deutschland jährlich 50 000 Kinder, d. h. jedes zweite Kind. Robert Koch wäre ohne Althoffs Förderung niemals ordentlicher Professor in Berlin, niemals Direktor des Instituts für Infektionskrankheiten, niemals Mitglied der Akademie der Wissenschaften geworden. Auch er hat dies dankbar anerkannt. Paul Ehrlich, der Entdecker des Heimittels Salvarsan gegen die Syphilis, hatte Althoff aus bedrückenden persönlichen Verhältnissen unter den Koryphäen Virchow und von Bergmann in Berlin befreit und zuerst in Berlin, dann in Frankfurt ein Staatliches Forschungsinstitut geschaffen. Dieser schrieb ihm am 27. Juli 1907 in einem Dankesbrief:

„Ich persönlich danke Ihnen meine ganze Karriere und die Möglichkeit, meine Ideen nutzbringend auszugestalten. Als Assistent herumgeschubst, in die engsten Verhältnisse eingezwängt -von der Universität [als ungetaufter Jude, v. B.] absolut ignoriert -kam ich mir ziemlich unnütz vor. Ich habe nie einen Ruf an die kleinste Stelle erhalten und galt als Mensch ohne Fach, d. h. vollkommen unverwertbar. Wenn Sie da nicht mit starker Hand und genialer Initiative für mich eingetreten wären, wenn Sie mir nicht mit rastlosem Eifer und gütiger Freundschaft die Arbeitsmöglichkeiten zurechtgemacht hätten, unter denen ich mich entwickeln konnte, wäre ich vollkommen brachgelegt gewesen.

Beispiele aus anderen Disziplinen ließen sich unschwer ergänzen.

Das internationale Ansehen der deutschen Wissenschaft vor 1914 fand seinen sichtbarsten Ausdruck in der großen Zahl der Nobelpreise und der Attraktivität deutscher Hochschulen für Ausländer. 1905 initiierte Althoff einen Professorenaus-tausch mit der Harvard-Universität gegen erhebliche Widerstände aus den Reihen der Berliner Professoren, die ihn als Anerkennung der wissenschaftlichen Ebenbürtigkeit ihrer amerikanischen Kollegen ablehnten. Althoff jedoch gewann den Kaiser für die Idee.10 Schon ein Jahr später folgte unter Federführung des Präsidenten der Columbia University, Nicholas Murray Butler, ein zweiter, auf höchster Ebene zwischen Wilhelm II. und dem Präsidenten der Vereinigten Staaten Theodore Roosevelt vereinbarter Austausch mit den übrigen amerikanischen Universitäten. Jährlich ging ein Kaiser-Wilhelm-Professor nach den USA und kam ein Theodore- Roosevelt-Professor nach Berlin. Bei den Antrittsvorlesungen war der Kaiser zugegen, die amerikanischen Professoren verkehrten mit ihren Frauen bei Hof.11

Am 27. Juni 1906 verlieh die älteste und berühmteste Universität Amerikas, die Harvard-Universität in Cambridge Friedrich Althoff als viertem Deutschen die Ehrendoktorwürde. Nach dem Glückwunschtelegramm Kaiser Wilhelm II. zur Ehrenpromotion seines Bruders Heinrich fünf Jahre davor war es die höchste Auszeichnung, die Amerika als Land ohne Orden zu vergeben hatte. Ungewöhnlich waren die Umstände der Verleihung. Althoff war durch Krankheit und die Geschäfte verhindert, die Auszeichnung persönlich entgegenzunehmen, ein in der Geschichte Harvards noch nicht vorgekommener Fall. Ungewöhnlich war auch die Begründung. In der Laudatiowurden zwar die Verdienste um den im Vorjahre eröffneten Professorenaustausch zwischen Deutschland und Amerika hervorgehoben, aber sie traten zurück hinter die Bewunderung der Persönlichkeit des Ausgezeichneten. Die Huldigung des Harvard Präsidenten Charles William Eliot (1834-1926) galt „der bedeutungsvollsten Persönlichkeit im deutschen Unterrichtswesen“:

“Ein Mann, maßvoll, energisch, unermüdlich, scharfsichtig weise und mutig.” “-virum ingenio austero, strenuoque, animo prudenti atque firmo, Germanorum in rebus academicis principem“ hieß es in der in lateinischer Sprache gehaltenen Laudatio.12 Eliot, bekannt für knappe, prägnante Würdigungen, hatte als junger Professor in Deutschland Chemie und das Unterrichtswesen studiert; in seiner vierzigjährigen Amtszeit von 1869 bis 1909 -fast identisch mit der Althoffs von 1871 bis 1907 -schuf er das modern Harvard und hat als einer der großen Universitätspräsidenten des Landes das Erziehungswesen der Vereinigten Staaten nachhaltig geprägt.

Es folgten weitere Abkommen Preußens mit den europäischen Nachbarn und den USA über Lehrer; Schüler- und Studentenaustausche. Sie wurden ergänzt durch den Aufbau eines weltweit geplanten Netzes von Kulturinstituten, sogenannten „Deutschen Häusern“ -zuerst an amerikanischen Universitäten: Harvard 1903 und Columbia, New York. Alle diese Einrichtungen waren der Beginn einer bewußten auswärtigen Kulturpolitik. Sie wurdebezeichnenderweise nicht vom Auswärtigen Amt, wo die geeignete Persönlichkeit fehlte, organisiert und bildete mit dem erklärten Ziel der Friedenssicherung und Völkerverständigung eine heute fast vergessene Alternative ,Kriegszielpolitik“ des kaiserlichen Deutschland. Gegenüber dem ersten Roosevelt-Professor, dem New Yorker Staatswissenschaftler John William Burgess, der 1871-1873 in Göttingen, Leipzig und Berlin studiert hatte, erklärte Althoff im Frühjahr 1907, als Burgess ihn in seiner Kur in Meran besuchte, den Gelehrtenaustausch als13

“das meistversprechende Mittel, die friedliche und verständnisvolle Annäherung der Völker zu fördern. Wie die Diplomatie einen Fortschritt gegenüber dem Krieg im Verkehr mit der Menschheit bildet, und der Handel wiederum einen Fortschritt gegenüber der Diplomatie, so bildet [...] der Gelehrtenaustausch wieder noch einen weiteren Fortschritt gegenüber dem Handel in Richtung auf die geistige Einheit des Menschengeschlechts. [...] Diplomatie und Handel haben wir seit langer Zeit, nun müssen wir den uneigennützigen geistigen Verkehr zwischen den Führern der Kulturbestrebungen der verschiedenen Nationen hinzufügen, um einer wahren Weltzivilisation den Weg zu bahnen. Mit diesem neuen Kulturbindemittel weerden wir dem Weltfrieden und der Weltkultur eine feste Grundlage geben.

Burgess, der Althoffs Ziele aus zahlreichen Gesprächen seit der ersten Begegnung als Gäste des Kaisers auf Schloß Wilhelmshöhe bei Kassel im August 1905 kannte,

hat den preußischen Ministerialdirektor wegen dieserKonzeption überschwenglich „einen der bedeutendsten Männer der Welt“ genannt, die ihm begegnet seien. Burgess Schüler, der Columbia-PräsidentNicholas Murray Butler, der Althoff in Berlin wiederholt besuchte undseine Ziele enthusiastisch billigte, gehörte zu den Mitbegründern des Völkerbundes. Er erhielt 1931 den Friedensnobelpreis.

Unter Althoffs Leitung erhielt die preußische Bildungs- und Wissenschaftspolitik zum ersten Mal seit Humboldt wieder einen großen Zug ins Weite. Franz Schnabel hat 1953 mit Recht betont, daß in der Klassengesellschaft des wilhelminischen Obrigkeitsstaats selbst „einer so starken, eigenmächtigen und illusionslosen Persönlichkeit wie Althoff“ Grenzen gesetzt waren.14 Althoffs Dilemma war es, eine außerordentlich moderne, zukunftsorientierte und freiheitliche Hochschul- und Wissenschaftspolitik in einem politisch und sozial retardierenden Gesellschaftssystem von „Untertanen“ mit den Mitteln des Obrigkeitsstaats verwirklichen zu müssen oder auch nur zu können. Daß er in einer Zeit, als der Liberalismus überall in Europa im Niedergang war, die Freiheit von Forschung und Lehre und ein freies tolerantes Klima an den Hochschulen verteidigt hat gegen eine politisch und sozial konservative Professorenschaft, gegen außeruniversitäre Einflüsse und Forderungen der Parteien, der Wirtschaft, der Kirchen, des Staats selber, macht ihn zu einem der bedeutendsten Vertreter des bürokratischen Liberalismus, zum größten Praktiker des preußischen Kulturstaatsgedankens. Und selbst sein schärfster Kritiker Max Weber, konnte nicht umhin anzuerkennen, als er 1911 in einer prinzipiellen Abrechnung mit dem „System Althoff“ vom sicheren Brot seiner außerpreußischen Professur in Heidelberg die Mittel und Methoden der preußischen Unterrichts Verwaltung als die denkbar rücksichtlosesten geißelte;15

„Es ist sehr schwierieg über diesen Mann zu sprechen. Er war nicht
nur ein wirklich guter Mensch im spezifischen Sinne des Wortes,
sondern er war ein Mann von sehr weiten Gesichtspunkten, [...] dem
die deutschen Universitäten Dinge verdanken, die in gewissem Sinne
unsterblich sind.“

Damit darf ich Ihnen am Schluß meine Antwort auf die eingangs gestellten Fragen geben. Warum alle Ehrungen Althoffs erst in den letzten Jahren und die Ehrung in Dinslaken erst heute? Spätestens seit Fritz Fischers Buch „Der Griff nach der Welttmacht. Über die Kriegszielpolitik des wilhelminischen Deutschland“ im Jahre 1961 ist das Kaiserreich in Verruf geraten. Und der Staat Preußen stand für viele lange Zeit unter dem Verdikt, mit dem die Siegermächte 1947 im Gesetz Nr. 46 des Alliierten Kontrollrats seine Auflösung dekretierten: „Der Staat Preußen, der seit jeher Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland gewesen ist, ... seine Zentralregierung und alle nachgeordneten Behörden werden hiermit aufgelöst.“

Seit längerem beginnt sich jedoch wieder eine differenziertere Sichtweise durchzusetzen. Preußen war der erste Flächenstaat, der die allgemeine Schulpflicht einführte. An seinen Gymnasien und hohen Schulen haben auch führende Sozialisten das wissenschaftliche Rüstzeug erworben, etwa Karl Marx auf dem Gymnasium in Trier und an der Universität Berlin. Preußen war auch nie nur eine Domäne ostelbischen Junkertums. Rheinischer und Westfälischer Bürgergeist haben diesen Staat nachhaltig geprägt neben den vielen Süddeutschen, die in preußische Dienste traten, neben Hugenotten und Salzburger Protestanten, die in Preußen als dem gelobten Land der Tolerenz Zuflucht vor religöser Verfolgung fanden.Althoff und seine Frau sind auf ihren Wunsch im Botanischen Garten inBerlin-Dahlem begraben. Auf das Grabmal hat Friedrich Althoff aus einervon ihm oft zitierten und wohl auf Augustin zurückgehenden Pandekten stelle des Corpus Juris „In necessariis unitas, in dubiis libertas, in Omnibus caritas" die drei letzten Worte setzen lassen. Aber auch ein weiteres Wort, das er oft im Munde führte, sollte nicht übersehen werden, die Worte, mit denen Vergil im sechsten Buche dtv Aeneis den Sendungsanspruch Roms zu klassischem Ausdruck brachte; sie hatte sich auch der junge Churchill zur Lebensmaxime gewählt: „parcere subiectis et debellare superbos“, die Anmaßenden und Übermütigen unterwerfen und die Unterworfenen zu schonen.16

Ich kann Ihnen, meine Damen und Herren der Stadt Dinslaken nur zu der Form gratulieren, in welcher Sie heute das Andenken eines großen Dinslakeners, Preußen und Deutschen würdigen.


  1. Vgl. den Überblick bei B. vom Brocke (1): Preußische Bildungspolitik von Gottfried Wilhelm Leibnizund Wilhelm von Humboldt bis Friedrich Althoff und Carl Heinrich Becker (1700-1930). In: W.Böhme (Hrsg.): Preußen -eine Herausforderung. (Herrenalber Texte, 32) Karlsruhe 1981, S. 54-99 gekürzte Fassung (b) in Deutsches Verwaltungsblatt mit Verwaltungsarchiv 96 (1981), 727-746; ferner die Beiträge von R. Vierhaus über W. von Humboldt B. Vogel über Altenstein, W. Treue über
    Schmidt-Ott und W. W. Wittwer über C. H. Becker, in: W. Treue/K. Gründer (Hrsg.): Berlinische Lebensbilder. Bd 3: Wissenschaftspolitik in Berlin: Minister, Beamte, Ratgeber. Berlin 1987.
  2. F. Althoff an Ludwig, 14.4.1904, Teilnachlaß Althoff (wie Anm. 1). -Gedicht zitiert bei A. Sachse (wie Anm. 1), S. 9. Vgl. auch F. Schmidt-Ott (wie Anm. 20), S. 101, 107.
  3. B. vom Brocke (wie Anm. 1), S. 40, 69ff. Einen eindrucksvollen Überblick gibt die Liste der 136 Unterzeichner des Spendenaufrufs zur „Friedrich-Althoff-Stiftung“ vom 16.1.1909 in Internationale Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 3(1909), Sp. 65-72,
  4. Vgl. die Schilderung seines vorletzten Referenten Dr. Ernst Eilsberger: „Ein Tag von Friedrich Althoffs Tätigkeit im Ministerium“ vom 23.12.1911, Manuskript im Teil-nachlaß Althoff (wie Anm. 1),15 S.: Auszüge bei A. Sachse (wie Anm. 1), S. 87-90.
  5. Kaiser Wilhelm II: Ereignisse und Gestalten aus den Jahren 1878 bis 1918. Leipzig 1922, S. 152.
  6. F. Paulsen: Friedrich Althoff Internationale Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik (1907), Sp. 967-978, hier Sp. 970; B. vom Brocke (wie Anm. I), S. 47.
  7. „Althoff und die Charite“, Der Vorwärts, Berlin, 24. Okt. 1908.
  8. Stenographische Protokolle des Preuß. Abgeordnetenhauses, 23.2.1905, Sp.10453-66; weitere Literatur bei B. vom Brocke (wie Anm. 10/a), S. 94f, und vom Brocke (wie Anm.55), S.528f
  9. W. Sombart: Althoff Neue Freie Presse (Wien), Nr. 15427 vom 4.8.1907, in Auszügen gedruckt bei B. vom Brocke (wie Anm. 1), S. 13f -Über Sombart-Althoff jetzt meine Einführung in Leben, Werk und Wirkung, in: Sombarts „Moderner Kapitalismus“.Materialien zur Kritik und Rezeption, hrsg. und eingel. von B. vom Brocke, (dtv Wissenschaftliche Reihe, 4453) München 1987, S. 11-65.
  10. A. Harnack (wie Anm. 31/a).
  11. B. vom Brocke: Der deutsch-amerikanische Professorenaustausch. Preußische Wissenschaftspolitik, internationale Wissenschaftsbeziehungen und die Anfänge einer deutschen auswärtigen Kulturpolitik vor dem Ersten Weltkrieg. Zeitschrift für Kulturaustausch 31(1981), 128-182, auch in: Interne Faktoren auswärtiger Kulturpolitik im 19. und 20. Jahrhundert. (Materialien zum Internationalen Kulturaustausch, 16) Stuttgart 1981.
  12. Der Ehrendoktor der Harvard-Universität. - National Zeitung (Berlin), Nr. 423 vom 12.7.1906. Der lateinische Text bei A. Sachse (wie Anm. 1), S. 63. Vgl. auch Ch. W. Eliot: Vorgeschichte des ersten Professorenaustausches und Gründung des Germanischen Museums in Cambridge. Bericht für Albert Bernhardt Faust [1910]. In: A. B. Faust: Das Deutschtum in den Vereinigten Staaten in seiner Bedeutung für die amerikanische Kultur. Leipzig 1912, S. 213-216; und: Ch. W. Eliot: Amerikas Dankesschuld an Deutschland. Nord und Süd 147 (1913), 11-13. -H. James: Charles illiam Eliot. 2Bde., Boston / New York 1930.
  13. J. W. Burgess: Persönliche Erinnerungen an Friedrich Althoff. Internationale Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 3(1909), Sp. 1337-1348.
  14. F. Schnabel (wie Anm. 6/c) S. 222.
  15. M. Weber: Verhandlungen des IV. Deutschen Hochschullehrertages zu Dresden am 12. und 13. Oktober 1911. Bericht erstattet vom Geschäftsführenden Ausschuß. Leipzig 1912, S. 66-77, hier S. 72.
  16. Belege bei B. vom Brocke: Hochschul- und Wissenschaftspolitik in Preußen und im Dt. Kaiserreich 1882-1907: Das „System Althoff‘. In: P. Baumgart (Hrsg.): Bildungspolitik in Preußen zur Zeit des Kaiserreichs. Berlin 1980, S. 9-118; hier S. 30. Immer noch unentbehrlich ist trotz fehlender Quellenangaben A. Sachse: Friedrich Althoff und sein Werk. Berlin 1928. S. 69. 257.

Anlass:

100. Todestag von Friedrich Althoff (19.02.1839 – 20.10.1908)

Datum:

30.10.2008

Ort:

Rathaus Dinslaken

Autor:

Prof. Dr. Bernhard vom Brocke

Sehr geehrte Frau Bürgermeisterin Weiss!
Sehr geehrte Festversammlung!

»Wir ehren heute einen Sohn Ihrer Stadt, der am 19. Februar 1839 (....) in diesem Hause, dem alten Dinslakener Kastell, geboren wurde.«

Mit diesen Worten begann ich vor 12 Jahren meinen Festvortrag, den zu halten ich am 26. Februar 1996 an dieser Stelle die Ehre hatte. Anlaß war die Aufstellung der Büste Friedrich Althoffs vor dein Sitzungsaal des Rathauses. Und ich setzte damals fort: »Es ist schon etwas Ungewöhnliches, daß in den letzten Jahren gleich zwei Städte ihres Bürgers mit Aufstellung einer Büste gedenken, zum einen (im Jahre 1991) die Stadt Berlin, in der Althoff die letzten 25 Jahre seines Lebens verbrachte, zum anderen (im Jahre 1996) die Stadt Dinslaken, in der er 1839 geboren wurde.«

Heute gedenken wir hier seines einhundertsten Todestages am 20. Oktober 1908. Der Termin wurde von der Stadt Dinslaken und dem Verein für Heimatpflege "Land Dinslaken" in Abstimmung mit einer Tagung festgelegt, auf der vor 10 Tagen, (also direkt an Althoffs Todestag) in Berlin die wissenschaftliche Welt seiner mit einem ganztägigen Kolloquium gedachte. An ihm nahmen aus Dinslaken Herr und Frau Bison teil. Thema des Berliner Kolloquiums war: »Wissenschaftsorganisation und Wissenschaftspolitik um 1900 im Deutschen Reich und im internationalen Vergleich«

Zu dem Berliner Kolloquium hatten drei Veranstalter geladen:

    1. die Max-Planck-Gesellschaft, deren Gründung als Kaiser-Wilhelm-Gesell­schaft im Jahre 1911 auf Althoffs Pläne zurückgeht,
    2. die Kommission für Akademie- und Wissenschaftsgeschichte der Leibniz-Sozietät, die aus der Preußischen Akademie der Wissenschaften hervorge­gangen ist, deren Ehrenmitglied Althoff war und
    3. der Lehrstuhl für Wissenschaftsgeschichte an der Humboldt-Universität, an der Althoff o. Hon. Prof. gewesen war; d. h. er war o. Professor ehren­halber, der lehren konnte, aber nicht lehren mußte.

Auf diesem Kolloquium würdigten neun Wissenschaftler aus dem In- und Ausland Althoffs Werk im Vergleich mit der Wissenschafts-organisation und Wissenschaftspolitik anderer deutscher Linder wie Bayern sowie des Auslan­des, insbesondere Österreichs, Frankreichs, Englands und Japans. Unser japa­nischer Kollege, Prof. Morikazu Ushiogi aus Tokyo, hatte 1993 ein Buch in japanischer Sprache veröffentlicht mit dem Titel in deutscher Übersetzung: »Ein Beamter, der die moderne Wissenschaft in Deutschland förderte — Schatttenkultusminister Althoff« (Tokio 1993, IV+218 5., Abb.).

Schon 1907 hat die Stadtverordnetenversammlung der Stadt Dinslaken eine Straße nach Althoff noch zu seinen Lebzeiten benannt. Vorausgegangen war im Vorjahre die Stadt Steglitz bei Berlin, heute Berlin-Steglitz, mit der Benen­nung der Althoff-Straße, die im Althoff-Platz mit einem kleinen Park mündet. In diesem Park errichtete sie zwei Jahre nach seinem Tod 1910 eine Bronze-Büste auf steinernem Sockel hinter einer marmornen Bank, die den eilig ha­stenden Großstädter Ruhe bot. Das Denkmal wurde im Zweiten Weltkrieg zer­stört, die Büste vermutlich eingeschmolzen. Aber im Mai 1991 wurde die neu gegossene Büste wiederaufgestellt. Der Abguß wurde beide Male — 1910 und 1991 — nach der Büste angefertigt, die der Bildhauer Prof. Fritz Schaper im Auftrag Kaiser Wilhelms II. noch zu Lebzeiten Althoffs aus carrarischem Marmor meißelte. Die Marmorbüste ist zum 70. Geburtstag des Verstorbenen 1909 in der Nationalgalerie enthüllt worden. Auch der hier im Jahre 1996 enthüllten Bronzebüste hat Schapers Meisterwerk als Vorlage gedient, auch sie ist wie die früheren bei Berliner Traditionsgießerei Noack gegossen worden.

Bis heute halten noch drei weitere Marmorbüsten anderer namhafter Bild­hauer in Berlin, Göttingen und Leipzig Althoffs Andenken wach. Ich möchte sie kurz vorstellen:

1) Den Anfang machte 1903, also schon zu Lebzeiten, die Berliner Charité mit der Aufstellung der Marmorbüste von Ferdinand Hartzer (1838-1906). Auf hohem Granitpostament mit der Aufschrift: „Friedrich Althoff gewidmet in dankbarer Erinnerung an die Neugestaltung der Charité 1903" steht sie am alten Eingang der Charité vor dem Verwaltungsgebäude. Sie wurde von den dankbaren Charité-Direktoren, Klinik- und Institutsleitern gestiftet. Seit 2001 steht das Original im Museum der Charité und ein Abguß auf dem Sockel am Eingang. Wie das Original wurde auch dieser Abguß wieder durch einen Spendenaufruf finanziert.

2) 1907 vermachte Althoff eine kurz vor seinem Tode entstandene zweite Marmorbüste von Ferdinand Seeboeck (1864-1953) durch testamentarische Verfügung der Göttinger Gesellschaft der Wissen-schaften. Sie hatte ihn in Würdigung seiner Verdienste um ihre Reorganisation 1901 zum Ehrenmitglied gewählt. Die Büste steht heute im Sitzungszimmer der Akademie im Aulage­bäude der Universität am Wilhelmsplatz.

3) Im Jahre 1916 stellte die Deutsche Bücherei in Leipzig bei der Einwei­hung ihres Bibliotheksgebäudes eine vierte Marmorbüste von Hans Krückeberg (geb. 1878) auf. Die Deutsche Bücherei war im Jahre 1913 auf eine Anregung Althoffs vom Börsenverein der Deutschen Buchhändler eröffnet worden. Sie wurde damals vom Deutschen Reich, vom Königreich Sachsen und der Stadt Leipzig unterhalten.

4) Hans Krückeberg ist zusammen mit Louis Tuaillon (1862-1919) auch der Bildhauer des 1911 eingeweihten Grabmals im Botanischen Garten in Berlin-Dahlem. Auf einem Steinpostament, das an einen klassizistisch gestalteten Sarkophag erinnert, befindet sich auf einem Sockel aufgestützt eine trauernde Frauengestalt aus Marmor, welche die trauernde Wissenschaft verkörpert. Das Steinpostament zieren ein Medaillon mit dem Kopf Althoffs im Profil und die Inschrift: In omnibus caritas. Friedrich Althoff." Das Grab­mal wurde aus Mitteln eines zur Gründung einer „Friedrich-Althoff-Stiftung" ergangenen Spenden-aufrufs errichtet. Der Spendenaufruf war am 16. Januar 1909 anläßlich seines 70. Geburtstages erfolgt und von Reichskanzler Bernhard von Bülow und 136 Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens unterzeichnet worden.

Schließlich möchte ich an drei große mehrtägige wissenschaftliche Veran­staltungen erinnern, die in internationaler Besetzung zu Althoffs 150. Geburts­tag 1989 in Ost-Berlin unter der Leitung von Prof. Hubert Laitko und in englischer Sprache in Heilbronn sowie 1990 in Bad Homburg stattfanden. Aus allen dreien sind profunde Buchver-öffentlichungen hervorgegangen. Die Heil­bronner Vorträge wurden gedruckt unter dem Titel: »The Economics. of Science Policy: An Analysis of the Althoff System«. (274 S.).1 Das Bad Homburger Symposion wurde gedruckt unter dem Titel: »Wissenschaftsge­schichte und Wissenschaftspolitik im Industriezeitalter. Das „System Althoff" in historischer Perspektive« (617 S.)2 Bemerkenswert an dem Bad Homburger Symposion kurz nach der deutschen Vereinigung war zweierlei. Erstens: Von den 28 Referenten und Referentinnen kamen je zwölf auf Westdeutschland und aus der DDR, vier aus dem Ausland, ein Zeugnis für die damalige blühen­de wissenschaftshistorische Landschaft der DDR. Zweitens: Ausser den Wissenschaftlern waren drei in der aktiven Hochschulpolitik stehende Referen­ten beteiligt, zwei Leitende Ministerialbeamte und ein Universitätskanzler. Sie sprachen über „Althoff und die Probleme von heute. Bemerkungen zur gegenwärtigen Hochschulpolitik aus der Sicht des Bundes, der Länder und der Universitätsverwaltung".

Es ist schon etwas Ungewöhnliches um diesen Mann: Über ein Vierteljahr­hundert hat er unter fünf Kultusministern als Vortragender Rat für die Uni­versitäten und dann als Ministerialdirektor im Preußischen „Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-angelegenheiten" gedient Er war nie selber Minister oder Staatssekretär, obwohl er es hätte werden können. Aber man nannte ihn Preußens „heimlichen Kultusminister" und „Bismarck des Hochschulwesens". Als solcher hat er maßgeblich dazu beigetragen, daß Deutschlands höhere und hohe Schulen, Akademien, Kliniken, Laboratorien und Forschungsinstitute Weltgeltung behielten und erwarben. Von diesem geistigen Kapital zehren wir als rohstoffarmes Land noch heute. Aber wie lange noch? War es doch neben den Produktivkräften Boden, Kapital und Arbeit nicht zuletzt die „Produktivkraft Wissenschaft", die Deutschlands wirt­schaftlichen Wiederaufstieg nach zwei Weltkriegen ermöglichte.

Für uns heute gehört Friedrich Althoff neben Wilhelm von Humboldt (1767-1835) und Carl Heinrich Becker (1876-1933) sowie Althoffs Schüler und Mitarbeiter Friedrich Schmidt-Ott (1860-1956) zu den großen Kultur­politikern und Wissenschaftsadministratoren, die Preußen-Deutschland her­vorgebracht hat.

— Humboldt im Geiste der Aufklärung, als nach der Niederlage Preußens gegen die Freiheitsparole der Französischen Revolution und das Frankreich des Ersten Napoleon das Königswort von Memel (1807) den Reformern freie Hand gab („der Staat muß durch geistige Kräfte ersetzen, was er an physi­schen verloren hat");

89 Becker, beide mit dem Ziel, die Folgen eines verlorenen Krieges zu überwin­den und die deutsche Wissenschaft aus ihrer internationalen Isolation zu befrei­en3 Ich möchte zunächst Althoffs Leben skizzieren, bevor ich dann einige Aspekte seines Werks, Leitideen und Ziele hervorhebe.4

I. Friedrich Althoff: Leben und Werk

Im Jahre 1929 begann Willy. Hellpach (1877-1955), Heidelberger Psychologie­professor. demokratischer Reichstagsabgeordneter und vormaliger badischer Unterrichtsminister und Staatspräsident, eine Würdigung Althoffs mit den Worten:

„Ein Dämon hat über 25 Jahre lang der Pflege und Lehre deutscher Wissenschaft seine Spuren eingraben dürfen. In einem Zeitalter, da lei­tendes Wirken im Staate mehr und mehr wieder dem Büro-, Kasernen­- oder Schloßadel vorbehalten wurde, kam er, bürgerlichen Namens, aus Deutschlands bürgerlichster Gegend, Preußens bürgerlichster Provinz, vom Niederrhein, und wenn er schon der Exzellenz nicht entgehen konnte, so ist er doch auch auf dem Gipfel seiner Macht nicht nobilitiert worden."

Althoff ließ andere nobilitieren.

Friedrich Althoff wurde am 19. Februar 1839 auf dem alten Kastell in Dinslaken — einer Schloßbesitzung der Familie der Mutter — als Sohn des damals 54-jährigen preußischen Domänenrates Friedrich Theodor Althoff und seiner zweiten Frau, der 37jährigen Julie von Buggenhagen geboren. Väterlicherseits kam er aus westfälischer Beamten- und Pfarrersfamilie bäuerlichen Ursprungs. Mütterlicherseits war er der Enkel eines Preußischen Kriegsministers und Regierungs-präsidenten von Cleve aus pommerschem Uradel. Die Herkunft aus bürgerlicher und adeliger Familie teilte Althoff mit den Brüdern Humboldt und Bismarck. Sie mag ihm die geistige Unabhängig­keit, Souveränität und Zivilcourage gegeben haben, seine Ziele gegen Hoch und Niedrig in der Stände- und Klassengesellschaft des wilhelminischen Obrigkeitsstaats durchzusetzen.

Die kluge, temperamentvolle, tief religiöse Mutter zog nach dem Tod des Gatten 1852 mit dem 13-jährigen Sohn nach Wesel, damit dieser dort das Gymnasium besuchte und mit 17 1/2 Jahren das Abitur ablegte. Nach dem Studium der Rechte in Bonn, unter-brochen von einem Semester in Berlin, war Althoff Referendar an rheinischen Gerichten und am Berliner Kammergericht. Nach dem ersten Examen im November 1861 verlobte sich der 23-jährige mit der 19-jährigen Marie Ingenohl in Neuwied, einem Mädchen von großer Zartheit und Anmut. Im Frühjahr 1865 heirateten sie in Ehrenbreitstein.

Die Ehe bot dem Rastlosen Ruhe, Hilfe und Stütze. Sie war nach den Maß­stäben der Zeit glücklich, aber kinderlos, vielleicht ein Grund für den späteren Arbeitsfanatismus. Seine Frau aber litt. Nie wußte sie, wann er von den Amtsgeschäften heimkehren, nie, wann er mit der nächtlichen Arbeit aufhören, selten, wen er ihr als Gast zuführen würde. Sie ertrug seine Unpünktlichkeit und ihre Einsamkeit mit immer gleicher Liebe und Geduld; sie lebte das Los vieler Frauen bedeutender Männer bis in unsere Zeit. An einem der letzten Geburtstage schrieb sie ihm diese Verse:


Große Wünsche für Dich hab ich nicht mehr.

Genug der Erfolge, genug der Ehr!

Nur ein paar Jahre zwischen Gott und der Welt

Zu leben wie Du es Dir vorgestellt.

Das wäre für mich wieder glückliche Zeit

Nach zwanzigjähriger Einsamkeit.6

Marie Althoff hat, in der Berliner Zeit schweren nervösen Herzanfällen unterworfen, viele Monate des Jahres in Meran, Martinsbrunn und anderen Sanatorien verbracht, Althoff in Meran, Wiesbaden, Kissingen, meist in seinem geliebten Schierke im Harz, so daß in den letzten Jahren 2 1/2 Haushalte finanziert werden mußten, wie er 1904 einem Freunde schrieb. Er, der gewohnt war, Summen von Hunderttausenden und Millionen bei Industriellen und Bankdirektoren für die Wissenschaft flüssig zu machen, mußte, wieder einmal in größter Geldverlegenheit, um ein Darlehen von 900-1200 Mark bis zum nächsten Quartalsgehalt bitten.7 Marie Althoff wurde nach dem Tode ihres Mannes gesund; sie überlebte ihn um 17 Jahre und sorgte für sein Ansehen durch die Sammlung und Ordnung des heute wieder im Preußischen Geheimen Staatsarchiv zugänglichen Nachlasses und die Herausgabe von 3 Büchern: Aus Friedrichs Althoffs Jugendzeit, aus seiner Straßburger Zeit und aus seiner Berliner Zeit.8 Den 1. Band Aus Friedrich Althoffs Jugendzeit. Erinnerungen für seine Freunde. Zusammengestellt von Marie Althoff" (Jena 1910,50 S.) hat der Verein für Heimatpflege „Land Dinslaken" 1996 in einem Reprint neu drucken lassen, mit einem Nachwort von Willi Dittgen über „Atlhoffs Weg — Dinslaken — Straßburg — Berlin".

1870 ließ sich Althoff als Rechtsanwalt in Köln nieder. Die Doktorarbeit war noch nicht fertig. Da bot der Ausgang des deutsch-französischen Krieges, an dem er als Sanitäter teilnahm, dem zwischen praktischer Tätigkeit oder einer wissenschaftlichen Laufbahn Schwankenden die Chance, beide beruflichen Wege zugleich zu erkunden. Mit dem Ziel, an der in Straßburg geplanten Reichsuniversität die Hochschullehrer-laufbahn einzuschlagen, trat er 1871 als Justitiar und Dezernent für Kirchen- und Schulsachen in die Verwaltung von Elsaß-Lothringen ein. In der Doppelstellung eines Verwaltungsbeamten und Professors war Althoff maßgeblich an der Gründung der Reichsuniversität und der Berufung der Professoren beteiligt. Von ihnen wurden einige wie die Nationalökonomen Gustav Schmoller, später in Berlin, und Wilhelm Lexis, später in Göttingen, seine Freunde und Berater. Der Chef des Kaiserlichen Geheimen Zivilkabinetts Rudolf von Valentini (1855-1925) war Althoffs Schüler.9 In Straßburg hat er seit 1872 als a.o. und 1880 o. Professor für französisches und modernes Zivilrecht — ohne eine Doktorarbeit und Habilita­tionsschrift vorgelegt zu haben — Erfahrungen gesammelt und realisiert, die er ab 1882 im preußischen Kultusministerium von Berlin aus verwirklichte.

Von 1882 bis zu seinem Abschied am 1. Oktober 1907 hat Althoff in Berlin unter fünf Kultusministern zuletzt autokratisch das preußische Hochschulwe­sen regiert, die ersten 15 Jahre nur einer unter 33 Vortragenden Räten, auch das letzte Jahrzehnt nur einer von vier Ministerialdirektoren. Seit 1896 unter­standen ihm als Ministerialdirektor und Leiter der Ersten Unterrichtsabteilung Hochschulen, wissenschaft-liche Anstalten, Bibliotheken, Kunstakademien, Mu­seen, Denkmalpflege, das höhere Schulwesen — und ab 1900 auch die medizi­nischen Wissenschaften. Nach seinem Ausscheiden wurde sein Ressort, da kein einzelner mehr der Arbeitslast gewachsen war, unter vier Abteilungs-dirigenten geteilt.

Daneben blieb Althoff nominell weiterhin Hochschullehrer. Er wurde 1891 o. Prof. in Bonn, 1896 o. Hon. Prof. in Berlin, 1904 Exzellenz, 1907 Wirkl. Geh. Rat. Am 1. Oktober 1907 nahm der fünffache Ehrendoktor (1906 Harvard), Ehrenmitglied der Akademien zu Berlin, Göttingen und Erfurt, aus Gesundheitsgründen seinen Abschied. Spätestens seit der Schulkonferenz von 1900, auf der er die Gleichberechtigung der drei höheren Schularten Realgym­nasien und Oberrealschulen mit den Gymnasien im Hinblick auf den Zugang zum Universitätsstudium durchsetzte, läßt sich das für einen Beamten seines Ranges ganz ungewöhnliche direkte Vortragsrecht bei Wilhelm II. — also unter Umgehung des Ministers — nachweisen. Er wurde von diesem zum Kronsyn­dikus, also zum juristischen Berater der Krone, ernannt und auf Lebenszeit ins preußische Herrenhaus berufen.

Die Geschäfte und Projekte rissen jedoch trotz der Warnungen der Ärzte nicht ab, die Zahl in- und ausländischer Besucher in seinem Sanatorium Schierke im Harz blieb groß wie eh und je. Noch am Todestag 20. Oktober 1908 — sollte Althoff dem Monarchen über seinen seit mehr als einem Jahr­zehnt verfolgten Plan der Errichtung „besonderer Institute für freie wissen­schaftliche Forschung" auf der Domäne Dahlem erneut Vortrag halten. Sein größtes Unternehmen, die beim hundertjährigen Jubiläum der Berliner Univer­sität am 11. Oktober 1910 von Wilhelm II. feierlich verkündete Stiftung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, konnte er — so Willy Hellpach — „nur noch konzipieren, nicht mehr exekutieren" 11. In Wilhelms II. Lebenserinnerungen wird von den hunderten höheren Beamten Preußens nur der „geniale Ministerialdirektor Althoff", von seinen vorgesetzten Ministern nur von Goßler erwähnt 12

 

II. Aspekte seines Werks, Leitideen und Ziele

Unter Althoffs Leitung vollzog sich der Ausbau des Hochschulwesens zum zentral gelenkten und mit den Mitteln der Durchstaatlichung und Bürokratisie­rung vorangetriebenen „Großbetrieb". Er erfolgte auf der Grundlage der von ihm begründeten deutschen Universitätsstatistik, jährlicher gedruckter Chroniken der Universitäten und der von ihm unter Einschluß Österreichs ab 1898 ins Leben gerufenen jährlichen „Konferenz von Vertretern deutscher Regierungen in Hochschulangelegenheiten", der heutigen Kultusministerkon­ferenz der Länder.13

Althoff konnte vor allem das, was ein Wissenschaftspolitiker können muss, Gelder für die Finanzierung von Wissenschaft und Kultur zu gewinnen. Ungewöhnlich und erfolgreich waren seine Methoden der Geldbeschaffung. Er reiste den Kultusministern in den Urlaub nach, um seine Ziele zu erreichen. Erfolgreich waren seine Methoden nicht nur dank seiner Kenntnis der Men­schen, ihrer Schwächen und Eitelkeiten, sondern auch dank der Virtuosität, mit der er sich ihrer und jenes Instrumentariums zu bedienen wußte, daß dem mo­narchischen Staat von der amtlichen Beförderung über die Titel- und Ordens­verleihung bis hin zur Nobilitierung zur Verfügung stand. Ich nenne nur ein Beispiel: Als 1903 in Marburg 100.000 Goldmark — etwa 6 Millionen Euro heute — zum Bau einer Universitätsklinik fehlten, streckte Althoff das Geld im Namen des Berliner Zeitungsverlegers August Scher! vor, der davon nichts wußte. Scherl war dafür bekannt war, daß et- Orden sammelte. Er verlangte den Roten Adler Orden, der Kaiser bewilligte nur den Kgl. Kronenorden 2. Klasse. Schert zog seine Geldzusage zurück. Die Situation schien aussichtlos verfahren. Aber Althoff reiste zu seinem badischen Kollegen Dr. Böhm nach Karlsruhe, versprach einen berühmten Heidelberger Professor nicht nach Berlin abzuwerben, machte einige Tauschgeschäfte und erhielt für Schert vom Badischen Großherzog das Großkreuz des Zähringer Löwen. Daraufhin konnte Schert nicht mit einem niedriger eingestuften preußischen Orden abge­funden werden und erhielt den ersehnten Roten Adler. Der Bau der Klinik war gesichert.

Alles das geschah nicht ohne scharfe Konflikte mit dem Selbstverwaltungs­prinzip der Universitäten. Gegen ihren Widerstand setzte Althoff die Gleich­stellung der Technischen Hochschulen mit den Universitäten durch, indem Wilhelm II. 1899 den Technischen Hochschulen das Promotionsrecht verlieh. 1900 folgte auf der großen Schulkonferenz die Gleichstellung der drei höheren Schularten. Sie war zehn Jahre vorher 1890 am Widerstand der Universitäten und Gymnasiallehrerverbände gescheitert, trotz des persönlichen Eingreifens des jungen Kaisers. Althoff war damals nur Zuhörer, nicht Organisator Auf der Frauenschulkonferenz von 1906 erreichte Althoff endlich auch den Zu­gang der Frauen zum Studium in Preußen — unter Überschreitung seiner Ressortgrenzen. Denn die niedere Unterrichtsabteilung des Ministeriums mit dem Volksschulwesen, dem Mädchenschulwesen, den Taubstummen- und Idiotenanstalten gehörte nicht zu seinem Ressort. Aber die Führerinnen der Frauenbewegung wandten sich über die Kaiserin an ihn, da er im Rufe stand, das Unmögliche möglich zu machen — auch gegen alle Widerstände aus den Universitäten. Berühmt, berüchtigt war das damals Aufsehen erregende und bis heute mehrfach aufgelegtes Buch des Leipziger Neurologen Paul Julius Möbius (1853-1907): Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes. (Halle 1900; 8. Aufl. 1908; Neudruck 2000, 213 S.). In diesem hatte Möbius den Frauen auf Grund kleinerer Gehirne die Studierfähigkeit abgesprochen.

Die Wertvorstellungen, die Althoffs politischen Standort und sein Wirken be­stimmten, waren Nationalstaat, Humanität und Toleranz. Sein wissen-schafts­politisches Ziel war, für Deutschland und besonders für Preußen die führende Stellung in Wissenschaft und Hochschulwesen erringen und erhalten — freilich nicht im Sinne eines Hurra-Patriotismus; denn dazu war er zu sehr rheinischer Bürger, aufgewachsen unter Protestanten, Katholiken und Juden, die, wie er einmal betonte, in seiner Kindheit in Dinslaken einträchtig miteinander lebten. Gegen Widerstände der mehrheitlich im Sinne des Kulturprotestantismus agierenden Universitäten setzte Althoff die Berufung von Katholiken und Juden durch, indem er die Freiheit von Forschung und Lehre im Sinne des preußischen bürokratischen Liberalismus und Kulturstaatsgedankens verteidigte. Und er war stolz darauf, gegenüber seinem schwierigen Freunde und Berater, dem Nordfriesen, Philosophen und Erziehungs-wissenschaftler Friedrich Paulsen (1846-1908) von sich sagen zu können: „Eins darf ich von mir sagen, ich habe in meinem Leben keine Hetze mitgemacht, keine Katholi­kenhetze und keine Judenhetze."14 Wir können hinzufügen: auch keine Sozialistenhetze.

Eine Voraussetzung von Althoffs Einfluß über die Grenzen seines Ressorts und Preußens hinaus war sein engmaschiges personales Beziehungsgeflecht von Vertrauensleuten, das sich schließlich in alle Bereiche der Verwaltung und des öffentlichen Lebens erstreckte, in die Hochschulen, das kaiserliche Zivilka­binett, Ministerien, Kirchen, Parlamente, Parteien, Presse und die Kreise der Hochfinanz und das Kritiker wie Max Weber kurz „System Althoff" nann­ten.15

Wenn es Althoff aus einer Beamtenstellung gelang, zu „Preußens heimli­chem Kultusminister" (Neue Zürcher Zeitung, 28.9.1907) und „Bismarck des Hochschulwesens" (Vossische Zeitung, Berlin, 19.10.1918) zu werden, so verdankte er das einer ungewöhnlichen Kombination persönlicher Eigen­schaften, nämlich Intelligenz und Phantasie, gepaart mit Fleiß und Energie, Zivilcourage, Uneigennützigkeit, diplomatischem Geschick und einer guten Portion Verschlagenheit. Er konnte zehn Schreibern simultan diktieren — die Schreibmaschine wurde erst um 1910 eingeführt — und er hatte als Regie­rungskommissar in den Debatten des Preußischen Abgeord-netenhauses und des Herrenhauses meist die Lacher auf seiner Seite.

Sein Hauptfehler war seine notorische Unpünktlichkeit, über die schon Schmoller 1882 an den Kultusminister schrieb, er werde in alle Sitzungen zehn Minuten bis eine Stunde zu spät kommen. Sie hat ihm offenbar nicht ge­schadet. Mit Recht sahen viele Professoren das stundenlange Warten über die vereinbarte Zeit hinaus in dem berüchtigten fensterlosen Wartezimmer des ständig überlasteten im Kultusministerium als eine Rücksichtslosigkeit an.16. Im Übrigen läßt sich durch manches Beispiel belegen: Wer das erste Mal nach einer halben Stunde wegging, wurde das nächste Mal pünktlich vorgelassen.

Urwüchsiger Humor, amüsanter Witz, Zivilcourage, das Fehlen jeder per­sönlichen Eitelkeit und kluge Planung gewannen Althoff die Gunst Wilhelms II. Sie bot ihm in der konstitutionellen Monarchie Rückhalt gegen alle Angriffe der Universitäten, des Parlaments, der Presse und Bürokratie, sie wußte er ge­schickt für seine Pläne nutzbar zu machen, sei es beim Vortrag in Potsdam, bei Einladungen zu Abendessen im kaiserlichen Familienkreis, in Gesprächen mit der Kaiserin oder 1905 auf der Mittelmeerreise des Kaisers mit der Yacht Ho­henzollern. Auch auf dieser setzte sich Althoff in für ihn typischer Weise über die Formen höfischen Verkehrs hinweg: Allem Pompösen abgeneigt, nahm er an dem feierlichen Einzug in Tanger nur privatissime unter der Zuschauermen­ge teil; das Pferd mit der Aufschrift „Althofff" mußte nach der Landung von Valentini besteigen.

Mit Hilfe des Monarchen als der wichtigsten Figur auf dem Schachbrett seiner internationalen Wissenschaftspolitik begann Althoff in den 90er Jahren zu einer Zeit, da die deutsche Politik ohne herausragende Politiker ziel- und richtungslos war, seine Vision zu verwirklichen: das Weltreich deutschen Gei­stes in Wissenschaft und Kultur. Sein Ziel, die Weltgeltung deutscher Wissen­schaft, suchte er mit der von ihm begründeten deutschen auswärtigen Kultur­politik als inter-nationalen Wissenschafts- und Friedenspolitik zu verwirklichen: u. a. ab 1905 mit dem deutsch-amerikanischen Professorenaustausch, dem Aufbau eines weltweiten Netzes deutscher Kulturinstitute, der Gründung von Auslandshochschulen (1907 Shanghai, 1909 Tsingtau). Als publizistische Plattform seiner internationalen Bestrebungen begründete Althoff 1907 die Internationale Wochenschrift für Wissen-schaft, Kunst und Technik (1907­-1921); ein Viertel der Beiträge stammte bis Kriegsausbruch aus der Feder namhafter ausländischer Gelehrter. 1921 stellte die Zeitschrift als Opfer der Inflation und des Ausschlusses der deutschen Hochschulen und Akademien aus allen internationalen Organisationen ihr Erscheinen ein.

Unter Althoffs Leitung erhielt die preußische Bildungs- und Wissenschafts­politik zum ersten Mal seit Humboldt wieder einen großen Zug ins Weite. Der Historiker Franz Schnabel hat 1953 in seinem

Beitrag über Althoff in der Neuen Deutschen Biographie mit Recht betont, daß in der Klassengesellschaft des wilhelminischen Obrigkeitsstaats selbst „einer so starken, eigenmächtigen und illusionslosen Persönlichkeit wie Althoff' Grenzen gesetzt waren.17

Alt­hoffs Dilemma war es, eine außerordentlich moderne, zukunftsorientierte und freiheitliche Hochschul- und Wissenschaftspolitik in einem politisch und sozial retardierenden Gesellschaftssystem von „Untertanen" mit den Mitteln des Obrigkeitsstaats verwirklichen zu müssen oder auch nur zu können. Daß er in einer Zeit, als der Liberalismus überall in Europa im Niedergang war und der Hurra-Patriotismus dominierte, die Freiheit von Forschung und Lehre und ein freies tolerantes Klima an den Hochschulen verteidigt hat gegen eine politisch und sozial konservative Professorenschaft, gegen außeruniversitäre Einflüsse und Forderungen der Parteien, der Wirtschaft, der Kirchen, des Staats selber, macht ihn zu einem der bedeutendsten Vertreter des bürokratischen Liberalis­mus, zum größten Praktiker des preußischen Kulturstaatsgedankens. Und selbst sein schärfster Kritiker Max Weber, konnte nicht umhin anzuerkennen, als er 1911 in einer prinzipiellen Abrechnung mit dem „System Althoff' vorn sicheren Hafen seiner aul3erpreußischen Professur in Heidelberg die Mittel und Methoden der preußischen Unterrichtsverwaltung als die denkbar rücksichts­losesten geißelte:

„Es ist sehr schwierig über diesen Mann zu sprechen. Er war nicht nur ein wirklich guter Mensch im spezifischen Sinne des Wortes, sondern er war ein Mann von sehr weiten Gesichtspunkten, (...) dem die deutschen Universitäten Dinge verdanken, die in gewissem Sinne unsterblich sind." 18

Althoff und seine Frau sind auf ihren Wunsch in dem von Althoff geschaf­fenen Botanischen Garten in Berlin-Dahlem begraben. Auf das Grabmal hat er aus einer von ihm oft zitierten und wohl auf Augustin zurückgehenden Pandektenstelle des Corpus Juris „In necessariis unitas, in dubiis libertas, in omnibus caritas" die drei letzten Worte setzen lassen: in omnibu.s. caritas. Aber auch ein weiteres Wort, das er oft im Munde führte, sollte nicht überse­hen werden, die Worte, mit denen Vergil im sechsten Buche der Aeneis den Sendungsanspruch Roms zu klassischem Ausdruck brachte; sie hatte sich auch der junge Churchill zur Lebensmaxime gewählt: „parcere subiectis et debel­lare superhos", die Anmaßenden und Übermütigen zu unterwerfen, aber die Unterworfenen zu schonen.19

Ich kann Ihnen, meine Damen und Herren der Stadt Dinslaken, nur zu der Form Ihrer Veranstaltung gratulieren, in welcher Sie heute das Andenken eines großen Dinslakeners, Preußen und Deutschen würdigen.


  1. Druck: Jürgen G. Backhaus (Hg.): The Econornies of Science Policy: An Analysis of the Althoff System. Heidelberg/New York 1991: Jürgen 0. Backhaus (Hrsg.) The Economics of Science Policy: An Analysis of the Althoff System. Journal of Econoiriic Studies, vol. 20, Nr. 415 (1993), 274 S.
  2. Druck: Bernhard vom Brocke (Hrsg.): Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftspolitik im Industriezeitalter. Das „System Althoff" in historischer Perspektive. Hildesheim 1991, 617 S.
  3. Vgl. den überblick bei Bernhrd vorn Brocke: Preußische Bildungspolitik von Gottfried Wilhelm Leibniz und Wilhelm von Humboldt bis Friedrich Althoff und Carl Heinrich Becker (1700-1930). In: W. Böhme
    (Hrsg.): Preußen - eine Herausforderung (Herrenalber Texte, 32) Karlsruhe 1981, S. 54-99, gekürzte Fassring in Deutsches Verwaltungsblatt mit Verwaltungsarchiv 96 (1981), 727-746; ferner die Beiträge von Rudolf Vierhaus Über Wilhem vnn Humboldt, B. Vogel über Altenstein, B. vom Brocke über Alt-hoff, Wolfgang Treue über Schmidt-Ott und W. W. Wittwcr über C. H. Becker, in: Wolfgang. Treue/ Karlfried Gründer (Hrsg.): Berlinische Lebensbilder. Bd 3: Wissenschaftspolitik in Berlin: Minister, Beamte, Ratgeber. Berlin 1987.
  4. Ausführlich: Bernhard vom Brocke: Hochschul- und Wissenschaftspolitik in Preußen und im Deutschen Kaiserreich 1882-1907: Das "System Althoff". In: Bildungspolitik in Preußen zur Zeit des Kaiser­reichs. Hg. von Peter Baumgart. Stuttgart 1980, S. 9--118.
  5. Willy Hellpach: F. Althoff. Versuch einer Würdigung, in: Minerya Zeitschrift, 5. Jg. (1929), S. 1.
  6. Gedicht, zitiert hei Arnold Sachse: Friedrich Althoff und sein Werk. Berlin 1928, S. 9.
  7. F. Althoff an Ludwig, 14.4.1904, Teilnachlaß Althoff, in: Staatsbibliothek Berlin, Stiftung Preuß. Kulturbesitz). - Vgl. auch Friedrich Schmidt-Ott: Erlebtes und Erstrebtes 1860-1950. Wiesbaden 1952., S. 101, 107.
  8. Marie Althoff: Aus Friedrich Althoffs Jugendzeit. Erinnerungen für seine Freunde. Zusammengestellt von M. A.. Als Mnskr. gedruckt, Jena 1910; Aus Friedrich Althoffs Straßburger Zeit. ... Jena 1914; Aus Friedrich Althoffs Berliner Zeit. ... Jena 1918.
  9. B. vom Brocke: Hochschul- und Wissenschaftspolitik (wie Anm. 4), S. 40, 69ff. Einen eindrucksvollen Überblick gibt die liste der 136 Unterzeichner des Spendenaufrufs zur „Friedrich-Althoff-Stiftung" vom 16.1.1909 in Internationale Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 3 (1909), Sp. 65-72.
  10. H. Th. von Böttinger: Weihe des Grabmals von Friedrich Althoff. Ansprachen des Wirkt. Geh. Ober. reg.rats Dr. Friedrich Schmidt. Abt.dir. im Kultusministerium, und des Geh_ Reg.rates Dr. Henry T. von Böttinger, Mitgl. d. Herrenhauses. Internationale Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 5 (1911), Sp. 801-806.
  11. W. Hellpach (wie Anm. 5), S. 36. Vgl. Anm. 44. - Grundlegend jetzt M. Engel: Geschichte Dahlems (als Wissenschaftszentrum und Villenkolonie). Berlin 1984, insbes. die Kapitel „Der Weg zur Kaiser­Wilhelm-Gesellschaft", „Die Institute der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft", S. 96-136.
  12. Kaiser Wilhelm 11: Ereignisse und Gestalten aus den Jahren 1878 bis 1918. Leipzig 1922, S. 152.
  13. Hochschulpolitik im Föderalismus. Die Protokolle der Hochschulkonferenzen der deutschen Bundes-­ staaten und Österreichs 1898 bis 1918. Hrsg. von Bernhard vom Brocke und Peter Krüger. Berlin 1994.
  14. Friedrich Paulsen: Friedrich Althoff. Internationale Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 1 (1907), Sp. 967-978, hier Sp. 970; B. vom Brocke (wie Anm. 4), S. 47.
  15. Zuschrift Webers an die Frankfurter Zeitung 27.10.1911, Abendblatt u. d. T.: „Max Weber über das ‚System Althoff' "
  16. Vgl. die Schilderung seines vorletzten Referenten Dr. Ernst Eilsberger: „Ein Tag von Friedrich Althoffs Tätigkeit im Ministerium" vorn 23.12.1911, Manuskript im Teilnachlaß Althoff (wie Anm. 7), 15 5.: Auszüge bei A. Sachse (wie Anm. 6), S. 87-90.
  17. Franz Schnabel: Friedrich Althoff. In: Neue Deutsche Biographie, Berlin 1953, 13d 1, S. 222---224.
  18. Max Weber: Verhandlungen des IV. Deutschen Hochschullehrertages zu Dresden am 12. und 13. Oktober 1911. Bericht erstattet vom Geschäftsführenden Ausschuß, Leipzig 1912, S. 66-77, hier S. 72.
  19. Belege bei 13. vom Brocke: Hochschul- und Wissenschaftspolitik (wie Anm. 4), S. 9-118; hier S. 30. Immer noch unentbehrlich ist trotz fehlender Quellenangaben Arnold Sachse: Friedrich Althoff und sein Werk. Berlin 1928, 5. 69, 257.

Anlass:

Jubiläumsfeier 50 Jahre Heimatverein Eppinghoven e.V.

Datum:

09.09.2001

Ort:

Festgelände rund um die St.-Johannes-Kirche

Autor:

Karl Tenhagen

Sehr geehrte Frau Bürgermeisterin,

verehrte Gäste, liebe Heimatfreunde,

Bürgerinnen und Bürger unseres Heimatdorfes Eppinghoven!

Mir wurde in meiner Eigenschaft als Ehrenvorsitzender unseres Heimat-vereins die Aufgabe übertragen, hier heute die sogenannte Festansprache zu halten, zumal ich 22 Jahre lang als Vorsitzender die Geschicke des Vereins mitbestimmt habe und als gebürtiger Eppinghovener die 50 Jahre Vereinsgeschichte hautnah miterleben durfte.

Für Menschen in der heutigen Zeit und auch für Vereine sind 50 Jahre kein hohes Alter wenn ich bedenke, dass unser Verein unter den vielen Vereinen unseres Dorfes mit zu den jüngsten zählt.

Im Gegensatz hierzu kann unser Heimatdorf Eppinghoven auf eine lange und wechselvolle Geschichte zurückblicken, die ich heute aus Zeitgründen allerdings nur kurz streifen möchte.

1188 machte die Zisterzienserabtei Altenberg Eppinghoven als Filialkirche von Götterswickerhamm aktenkundig. Es ist anzunehmen, dass Eppinghoven schon lange vor dieser Zeit bestand, denn entlang des ältesten Verbindungsweges zwischen Ruhr und Lippe lassen sich zahlreiche fränkische Siedlungen bis ins 7. bzw. 8. Jahrhundert nach Christus nachweisen. An eben diesem Verkehrsweg lag auch das uralte

Kirchspiel Eppinghoven, über dessen Entstehung allerdings keine genaue Kenntnis vorliegt.

Der Name Eppinghoven weist auf fränkischen Ursprung hin. Danach kommt "Eppink", was "Sohn des Eppo" bedeutet und der Besitzer eines Hofes war, als Namensgeber in Frage.

Die Geschichte Eppinghovens war immer eng verbunden mit der Geschichte der Rittersitze "Haus Wohnung" und "Haus End" und selbstverständlich der Kirche St. Johannes Evangelist.

Historisches gäbe es darüber hinaus zum Beispiel über die Gaststätte Freesmann zu berichten. Sie gewährte in alter Zeit als die Herberge im "Schild zu Bethlehem" (das war die geschichtlich nachgewiesene Bezeichnung) vorbeireisenden Kaufleuten Gastlichkeit. Die Gaststätte lag an der in Nord-Süd-Richtung von der Ruhr zur Lippe verlaufenden uralten Landstraße. Diese Straße ging als Heerstraße durch Eppinghoven und an die im Jahre 1273 zur Stadt erhobenen Siedlung Dinslaken vorbei. Viele Kriegshandlungen und Katastrophen gingen über Eppinghoven hinweg und brachten Not und Elend über unser Dorf.

Pater Dr. Ludger Horstkötter von der Abtei Hamborn hat dies in seinem Vortrag vor dem Heimatverein am 16. März 1998 eindrucksvoll geschildert.

Dieser Vortrag steht zur Verfügung und kann bei mir abgerufen werden.

Weitere, ausführliche Darlegungen sind in den vom Heimatforscher Walter Neuse verfassten A exth. betitelt, "Die Geschichte der Rittersitze Haus Wohnung und Haus End", zu entnehmen. Ebenso aus seiner Veröffentlichung über die Gaststätte "Im Schild zu Bethlehem".

In unserer heutigen Ausstellung finden Sie unter anderem diese Veröffentlichungen in einem Bücherstand. Bitte entnehmen Sie diesem Bücherstand keine Bücher oder Schriften, da ich vielfach nur noch über Einzelexemplare verfüge. Sie können aber gerne bei mir für Sie interessante Literatur ausleihen. Interessant ist vielleicht noch, dass im alten Eppinghoven von einem Gericht als behördliche Justiz- und Verwaltungseinrichtung die Rede ist.

Aber dessen Bezirk war damals schon zweigeteilt. Der südliche Teil Eppinghovens gehörte zu Walsum und der nördliche zu Götterswickerhamm. Später entwickelte sich ein östlicher Teilbereich, der zu Dinslaken gehörte.

Diese Dreiteilung brachte für die Eppinghovener Bürger ganz erhebliche Schwierigkeiten mit sich. Diese zu beseitigen, war bereits in den Jahren 1927/1928 Anlass, eine Eingemeindung von ganz Eppinghoven nach Dinslaken anzustreben.

Aber dessen Bezirk war damals schon zweigeteilt. Der südliche Teil Eppinghovens gehörte zu Walsum und der nördliche zu Götterswickerhamm. Später entwickelte sich ein östlicher Teilbereich, der zu Dinslaken gehörte.

Diese Dreiteilung brachte für die Eppinghovener Bürger ganz erhebliche Schwierigkeiten mit sich. Diese zu beseitigen, war bereits in den Jahren 1927/1928 Anlass, eine Eingemeindung von ganz Eppinghoven nach Dinslaken anzustreben. Dieser Wusch stieß allerdings damals schon auf heftigen Widerstand der Gemeinden Walsum und Voerde.

Die Eppinghovener hatten nämlich auf Listen, die von 498 Bürgerinnen und Bürgern unterzeichnet waren und mir vorliegen - mit Siegel beglaubigt unter dem 25.06.1928 vom damaligen Pfarrer Bousseljon - ihren Willen unter dem Motto kundgetan: "Wir sind für den Anschluss Eppinghovens nach Dinslaken".

Daraufhin gab der damalige Bürgermeister der Gemeinde Walsum, Höweler, im September 1928 eine Denkschrift heraus, die mit fragwürdigen Argu-menten die ablehnende Haltung der Gemeinde Walsum begründen sollte.

Nach der unheilvollen Zeit der NS-Diktatur und der Kriegswirren des 2. Welt-

krieges entsannen sich beherzte Bürger Eppinghovens der vergeblichen Eingemeindungsbemühungen nach Dinslaken, zumal sie weiterhin mit den Schwierigkeiten der Dreiteilung zu kämpfen hatten.

Sie waren überzeugt, dass nur ein Zusammenschluss der Eppinghovener Bürger ein wirkungsvolleres Vorgehen ermöglichte, und luden zu einer

Bürgerversammlung am 28.07.1951 die Bevölkerung in die Gaststätte Freesmann ein. In dieser Versammlung wurde der Heimatverein gegründet. Spontan ließen sich 59 Personen als Mitglieder aufnehmen.

Der Vorstand wurde einstimmig wie folgt gewählt:

 

1. Vorsitzender Johann Lohscheller
2. Vorsitzender Bernhard Hesselmann
Schriftführer Karl Freesmann

 

Kassierer Johannes Pooth
Kultur- und Heimatkunde Hauptlehrer Friedrich Schmitz
Verkehr Fritz Hartwig
für Voerde Johann Scholten-Ujen
für Walsum Dr. Lothar Schulte
für Dinslaken Arnold Schlagheck

 

Der Monatsbeitrag wurde auf DM 0,35 festgesetzt. Erstaunlich ist, dass der Mitgliedsbeitrag fast in dieser Höhe auch heute noch gilt.

Mit dieser Vereinsgründung wurde eine Interessenvertretung geschaffen, die wirkungsvoll gegenüber Behörden und sonstigen Stellen auftreten konnte und eine Plattform, von der sie Initiativen entwickeln konnte, um den zuständigen Behörden in den drei Gemeinden Anregungen zu geben und deren Arbeit im Interesse der Eppinghovener sinnvoll zu ergänzen.

Der Verein war nunmehr für alle Probleme ansprechbar und kümmerte sich um entsprechende Lösungen und die Beseitigung von Missständen, denn als Randgebiet war Eppinghoven für die Gemeinden nicht so bedeutend und wurde demnach sträflichst vernachlässigt.

Von Anfang an und auch in der Folgezeit lag allerdings der Schwerpunkt der Vereinsarbeit in dem Bestreben, die Eingemeindung nach Dinslaken zu erreichen. Es folgten unzählige Aktivitäten auf diesem Gebiet, Verhandlungen mit Behördenvertretern und Politikern sowie schriftliche Eingaben sogar bis zum Regierungspräsidenten. Der Verein erzwang damit sogar eine amtlich verordnete Abstimmung, ein Volksbegehren, durchgeführt in der gesamten Gemeinde Voerde am 27. Februar 1974.

Dass das schief gehen musste, war von vornherein zu vermuten, denn warum sollten z. B. Bürger der Gesamtgemeinde Voerde aus Friedrichsfeld

oder Spellen für eine Verkleinerung ihrer Gemeinde stimmen. Außerdem wurde die Bevölkerung mit fragwürdigen Schriften und Plakaten manipuliert.

Mit der Gebietsreform 1975 wurde das Problem endgültig gelöst und alle Eppinghovener wurden Bürger einer Stadt, nämlich der Stadt Dinslaken. Das ständige Bemühen des Heimatvereins hat bei der nicht einfachen Gebietsreform 1975 eine entscheidende Rolle gespielt.

Obschon, wie gesagt, die Eingemeindungsbestrebungen Priorität hatten, entwickelte der Verein auch damals schon viele Aktivitäten, z. B. gab es auch zu der Zeit schon jährlich einen Martinszug, der sich bis heute zu-nehmender Beliebtheit erfreut und enormen Zulauf hat.

Besonders bemühte sich der Verein intensiv um die Beseitigung vieler Missstände in unserem Dorf. So erstellte die damalige Stadt Walsum nach ständigem Drängen auf dem Dorffriedhof eine Leichenhalle. Die Stadt Dinslaken ergänzte diese in jüngster Zeit durch eine Kühlanlage, nachdem der Heimatverein diese anhaltend angemahnt hatte, und da der Etat der Stadt Dinslaken kein Geld für eine Lautsprecheranlage auf dem Friedhof vorsah, ließ der Heimatverein auf eigene Kosten eine solche installieren.

Mit Erfolg setzte sich der Verein für bessere Straßenverhältnisse und Straßenbeleuchtungen ein. Die Älteren von Ihnen können sich sicherlich noch der katastrophalen Straßenzustände erinnern. Neue Straßen wurden immer einvernehmlich mit den Behörden nach den jeweiligen Vorschlägen des Vereins benannt.

Leider waren die jahrzehntelangen Bemühungen um eine Ampelanlage an der Kreuzung bei Freesmann bisher ohne Erfolg. Wir werden die Hoffnung allerdings nicht aufgeben, mit weiterer Beständigkeit doch noch zum Ziele zu kommen.

Um noch wirkungsvoller nach außen hin auftreten zu können, war ich von Anfang an bestrebt, die Zahl der Vereinsmitglieder wesentlich zu ver-größern. Die Werbemaßnahmen und der intensive Einsatz des gesamtes Vorstandes brachte außerordentlichen Erfolg. So können wir heute auf einen Mitgliederbestand von 370 Personen stolz sein.

Bei unserer verstärkten Mitgliederwerbung laden wir selbstverständlich auch unsere Neubürger ein, die Mitgliedschaft zu erwerben, um sie so in unsere Dorfgemeinschaft zu integrieren.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

Heimat, das ist vor allem Kindheit und für die Erwachsenen, die fortgezogen sind oder vertrieben wurden, Erinnerung daran.

Besonders die, die in den Krieg ziehen mussten, sehnten sich in fernen Ländern nach der Heimat. Und viele von diesen jungen Soldaten aus unserem Dorf sahen ihre Heimat nicht wieder. Ihnen hat der Heimatverein 1960 hier in unserer Dorfmitte ein Denkmal gesetzt.

Jährlich am Volkstrauertag findet an diesem Ehrenmal unter Beteiligung aller örtlichen Vereine eine Trauerfeier statt. Auf den Tafeln am Ehrenmal sind die Namen der Vielen durch Kriegseinwirkung ums Leben gekommenen verzeichnet.

Es waren:  Im 1. Weltkrieg 16 Soldaten, im 2. Weltkrieg 98 Gefallene und 35 Vermisste und 16 Zivilisten mussten hier in der Heimat ihr Leben lassen. Demnach hat der wahnwitzige 2. Weltkrieg 149 Opfer aus unserem Dorf gefordert. Ihnen allen gilt unser Gedenken am heutigen Tag.

Meine Damen und Herren,

ich könnte noch vieles aufzählen, was der Heimatverein in seiner 50-jährigen Geschichte geleistet bzw. erreicht hat, aber meine mir vorgegebene Zeit ist schon überschritten.

Wer interessiert ist, darf gerne Einsicht in unsere Protokolle und den sehr umfangreichen Schriftverkehr nehmen. Ebenso stelle ich das von mit inzwischen in mühevoller Kleinarbeit erstellte Archiv, das jedoch noch einer zeitaufwendigen Überarbeitung bedarf, jederzeit zur Verfügung. Auszüge hieraus können Sie in der heutigen Ausstellung besichtigen.

Besonderen Dank darf ich an dieser Stelle für die Mitarbeit an der Erstellung dieser heutigen Ausstellung den Vorstandsmitgliedern Jürgen Otte, Werner Poetschki und Berni Tekaat aussprechen. Dank aber auch an Frau Marzin, die uns bereitwillig Einblick in das Stadtarchiv gewährte und Auszüge hieraus zur Verfügung stellte.

Da laut unserer Satzung auch die Denkmalpflege unser Anliegen ist, haben wir uns überlegt, was wir wohl am Tage unserer Jubiläumsfeier - der auch gleichzeitig der Tag des Offenen Denkmals ist - für eine gute Tat vollbringen können.

Wir stehen hier vor einem sehr alten Denkmal. Ich meine damit den alten Teil der Kirche. Bei alten Baudenkmälern findet man vielfach am Gebäude angebrachte Hinweise, die besagen, womit man es zu tun hat. Spazier-gänger suchen einen solchen Hinweis bisher an unserer Kirche vergeblich.

Ich bin davon überzeugt, dass auch viele Kirchgänger nicht über die wichtigsten Merkmale der alten Kirche informiert sind. Deshalb hat der Heimatverein eine Bronzetafel erstellen lassen, die wir heute der Öffentlichkeit zugänglich machen wollen. Sie ist schon angebracht und trägt die Inschrift:

"Katholische Pfarrkirche St. Johannes Evangelist. Die alte gotische Backsteinkirche mit Kreuzgewölbe und Glockenturm stammt aus dem Jahre 1450.

An gleicher Stelle stand bereits 1226 eine Kapelle. 1927/28 erfolgte die Erweiterung an der östlichen Langschiffseite der alten Kirche nach Entwürfen des Architekten Merl aus Wesel.

Diese Tafel stiftete der Heimatverein Eppinghoven e.V. anlässlich seines 50-jährigen Bestehens im Jahre 2001"

Damit beschließe ich meine Ausführungen und danke für Ihre Aufmerksamkeit.

Anlass:

Veranstaltung zur Erinnerung an die Gründung des Kreises Dinslaken vor 100 Jahren

Datum:

26.04.2009

Ort:

Rathaus Dinslaken

Autor:

Dr. Horst Griese, Oberkreisdirektor a.D.

100 Jahre Altkreis Dinslaken

 

I.

Nachdem nach den napoleonischen Kriegen 1815 auf dem Wiener Kongress sein Staatsgebiet neu festgelegt worden war, richtete Preußen landesweit als untere Verwaltungsebene Kreise ein. Dabei entstand 1816 aus dem ehemals kleveschen Gebiet von Schermbeck bis Duisburg auch ein erster Kreis Dinslaken; aber er hielt sich nur sieben Jahre, denn infolge der Ruhrgebietsdynamik änderten sich wiederholt Zuschnitt und Name der Kreise. Zuletzt gehörte der Raum Dinslaken zum Kreis Ruhrort. Als 1905 Ruhrort in die Stadt Duisburg eingemeindet wurde, lag der Kreissitz plötzlich außerhalb des Kreisgebietes. In dieser anomalen Situation sah der Direktor des Dinslakener Bandeisenwalzwerkes und Kreistags-abgeordneter Julius Kalle die Chance für Dinslaken, erneut Kreissitz zu werden, und stellte im Kreistag einen entsprechenden Antrag. Dagegen gab es Widerstand, vor allem aus der damals noch kreisangehörigen Gemeinde Hamborn. Denn von den 130.000 Einwohnern des verbliebenen Kreises hatte Dinslaken gerade einmal 6.000, sein einziger Trumpf war die Mittelpunktlage. Die Entscheidung zog sich daher lange hin, schließlich aber gab es seit dem 01. April 1909 doch wieder einen Kreis Dinslaken.

Aber keine 10 Jahre später wurde es schon wieder eng für seinen Fortbestand. Denn 1911 wurde Hamborn kreisfreie Stadt. Kreisfreiheit war jetzt auch das Ziel von Dinslaken und Sterkrade. Die einvernehmliche Aufteilung von Hiesfeld im Jahre 1917 auf diese beiden Städte brachte Sterkrade noch im selben Jahr an sein Ziel. Dinslaken aber hatte die erforderliche Einwohnerzahl von 40.000 damit noch nicht erreicht und strebte daher weitere Eingemeindungen an, aber die Nachbarn winkten ab; der Kreis Dinslaken blieb.

Der neue Kreis Dinslaken wurde in einer Zeit gegründet, als die Industrie des Ruhrgebiets in den Raum Dinslaken vordrang. Das erste Unternehmen war das 1897 von August Thyssen gegründete Bandeisenwalzwerk in Dinslaken. Es gelangte zu europäischem Ruhm und beschäftigte bis zu 3.000 Mitarbeiter. Nachdem es den zweiten Weltkrieg heil überstanden hatte, wurde es als Reparationsleistung demontiert.

Um die gleiche Zeit entstand in Walsum ein Zellstoffwerk von Grillo, das aber bald durch eine Papierfabrik ersetzt wurde. 10 Jahre später folgte der Bergbau, zuerst mit dem Schacht Lohberg, an den sich später die heute denkmalsgeschützte Gartenstadtsiedlung anschloss. In Walsum wurde der Schacht Wehofen abgeteuft und schließlich der schon 1904 geplante, aber erst 1939 fertiggestellte Schacht Walsum, einst ein Vorzeige-bergwerk; seine Gebäude sind vor wenigen Tagen gesprengt worden. Neben diesen Großbetrieben geht auch mancher mittelständische Betrieb auf diese Zeit zurück, so die Walzenfabrik von Steinhoff in Dinslaken.

Der erste Weltkrieg unterbrach diese Entwicklung. Auf sein Ende folgte eine Zeit voller Unruhe. Die revolutionären Vorgänge in Berlin führten im November 1918 auch im Kreis Dinslaken spontan zur Bildung eines Arbeiter- und Soldatenrates. Er existierte neben dem Kreistag, der noch während des Krieges aufgrund des reaktionären preußischen Wahlrechts gebildet worden war. Die Zuständigkeiten waren der Natur der Sache nach nicht geregelt. Nach einer Verfügung des Innenministers sollte der Arbeiter- und Soldatenrat sich mit den Versorgungsfragen befassen, die natürlich auch er nicht lösen konnte, der Kreistag dagegen hauptsächlich mit den Finanzen. Diese Arbeitsteilung schien zu funktionieren. Nach der ersten demokratischen Kreistagswahl, die 6 Monate später stattfand, löste der Arbeiter- und Soldatenrat sich auf.

1920 kam es infolge des Kapp-Putsches zu bewaffneten Aus-einandersetzungen zwischen Arbeitersoldaten der illegalen Roten Brigaden sowie Polizei und Reichswehr; dabei gab es über 80 Tote. 1923 wurde der Kreis von belgischen Truppen besetzt und der Landrat 7 Monate in Geiselhaft gehalten. Dazu blühte die Inflation, bis dann endlich im November 1923 die Rentenmark als Reichswährung eingeführt wurde.

Zu den Entbehrungen der Nachkriegszeit trat eine große Wohnungsnot, die verstärkt wurde durch den Flüchtlingsstrom aus den verlorenen Gebieten. Der Kreis kaufte daher für den Bau preiswerter Wohnungen den 900 Hektar großen Truppenübungsplatz Friedrichsfeld, der durch die Demobilisierung der Weseler Garnison verfügbar geworden war, und gründete die Gemeinnützige Siedlungsgesellschaft für den Kreis Dinslaken, die spätere Wohnbau Dinslaken. Ihr erster Erfolg war die Schaffung von Wohnraum für 3.000 Flüchtlinge.

Zur Kapitalbeschaffung mussten aus dem Gelände allerdings erhebliche Flächen wieder veräußert werden. Daraus erwarben die Hamborner Thyssen Gas- und Wasserwerke den Gutshof Glückauf für die Wasser-gewinnung und Babcock eine große Fläche in Friedrichsfeld, wo dieses Oberhausener Unternehmen 1938 ein vor allem im Kesselbau sehr erfolgreiches Zweigwerk errichtete. Mit dem Niedergang der Mutter wurde es 1999 stillgelegt. Dem Kreis waren noch 540 Hektar verblieben; 35 Jahre später gab das dem Kreis die Möglichkeit zu großflächigen Betriebsansiedlungen in Bucholtwelmen und zum Bau großzügiger Wohnsiedlungen in Friedrichsfeld.

II.

Es folgte auf die Notjahre der Nachkriegszeit eine kurze Phase wirtschaftlicher Erholung, und dann verlangte die Dynamik des Ruhrgebiets Ende der 20-er Jahre erneut eine Gebietsreform. Jetzt sollte nach dem Gesetzesentwurf des Innenministeriums der Kreis wieder aufgeteilt werden. Von Walsum sollte Aldenrade nach Hamborn eingemeindet werden, die Gemeinde Gahlen sollte in den Kreis Recklinghausen eingegliedert werden und das übrige Kreisgebiet mit dem Kreis Rees zu einem neuen Lippekreis mit Sitz in Wesel vereinigt werden. Vor allem sollte aber auch Duisburg zur Ruhrmündungsstadt ausgebaut werden, und dafür sollte unter anderem Hamborn nach dort eingemeindet werden.

Die Stadt Dinslaken sah jetzt noch einmal die Chance, nach Eingemeindung einiger Nachbarn endlich kreisfrei zu werden; aber ohne Erfolg.

Der damalige Landrat Schluchtmann hatte eine neue Idee. Er lehnte den Regierungsplan nicht nur ab, sondern lenkte den Blick statt auf die einzelnen Gemeinden auf den Kreis als Einheit und verlangte, ihn ungeschmälert zu erhalten, - damit er auf Grund seiner ökonomischen und natürlichen Ressourcen zu einer aufgelockerten und gesunden Großstadt zusammenwachsen könne. Seine Argumente legte er im Einzelnen in einer Denkschrift dar und vertrat seine Idee hoch engagiert in vielen Versammlungen im Kreis und in zahlreichen Pressegesprächen. Der Kreistag folgte ihm uneingeschränkt.

Schluchtmann war 1921 Landrat geworden; seit 1919 war er Mitglied des preußischen Landtages, wurde Mitglied seines Ausschusses für Gemeindeangelegenheiten und war dort Sprecher der Landkreise. Er war ein politisches Schwergewicht.

Die Staatsregierung blieb hart, aber an der politischen Front im Landtag setzte Schluchtmann sich durch. Dort zählten allerdings auch noch andere Argumente. Als er bei dem Hamborner Oberbürgermeister einen Verzicht auf Walsums Süden nicht erreichen konnte, verbündete er sich mit dem Duisburger Oberbürgermeister Dr. Jarres und half ihm hinter den Kulissen bei der Eingemeindung von Hamborn. Im Juli 1929 war die Neugliederung beendet, der Kreis Dinslaken war erhalten geblieben. Doch konnte Landrat Schluchtmann sich seines Sieges nicht lange erfreuen, schon ein Jahr später verstarb er. Aber seine Vision von dem zu einer Großstadt zusammenwachsenden Kreis beherrschte seitdem immer wieder die politische Diskussion.

Drei Monate nach der Beendigung der Neugliederung, im Oktober 1929, kam in New York der „Schwarze Freitag“, kein Jahr später hatte auch Deutschland seinen Bankenkrach. Unternehmen brachen zusammen, die Menschen verloren ihre Arbeit, fast die Hälfte der Einwohner des Kreises lebte von der öffentlichen Fürsorge. Das war der Boden für die NSDAP auch im Kreis Dinslaken. Nach wenigen Jahren einer Scheinblüte kam der zweite Weltkrieg. Noch kurz vor seinem Ende, im März 1945, wurden Dinslaken und Walsum vor dem Rheinübergang der Alliierten durch Artilleriefeuer in Schutt und Asche gelegt.

Gleich nach dem Einmarsch der Amerikaner ging der Rest der Kreisverwaltung unter dem von den Amerikanern zum Landrat ernannten Studienrat Dr. Zorn mit vielen ungelernten Kräften an die Arbeit; wegen der Zerstörung des Kreishauses waren sie über die ganze Stadt verteilt. Schon im Oktober 1946 wurde wieder ein Kreistag gewählt, so dass die Verwaltung nach 13 Jahren wieder eine demokratische Legitimation erhielt. Aber den Menschen fehlte es weiter an allem und dazu strömten wieder Tausende von Flüchtlingen und Vertriebenen in den Kreis. Der Kreis war so hart getroffen, dass die Landesregierung 1947 seine Auflösung erwog, aber unter dem nachwirkenden Eindruck der Schluchtmann-Idee sah sie davon ab.

Nach der Währungsreform 1948 und der Einführung der freien Marktwirtschaft begann auch hier ein stürmischer Wiederaufbau. Die Wirtschaft boomte, es entstand Vollbeschäftigung und die Bevölkerung des Kreises wuchs von 80.000 im Jahre 1950 auf 143.000 im Jahr 1971. Der Kreis und die Gemeinden konnten nun viele Einrichtungen der Daseinsvorsorge schaffen, wie Kindergärten, Jugendheime oder Begegnungsstätten für alte Menschen. Das Berufsschulwesen wurde ausgebaut und das kulturelle Leben gefördert, wie das Haus der Heimat oder die Burghofbühne. Unter dem Oberkreisdirektor Dr. Becker wurde die Volkshochschule gegründet, die unter Kulturamtsleiter Dittgen eine vielseitige Bildungseinrichtung wurde. Vor allem konnte jetzt zur Beseitigung der Wohnungsnot der Wohnungsbau in einem bis dahin unvorstellbaren Ausmaß mobilisiert werden. In Friedrichsfeld lief ein Demonstrativprogramm an, das 850 Wohnungen vorsah.

Jetzt war auch die Zeit gekommen, wieder ein Kreishaus zu bauen, 1951 wurde es eingeweiht. Es ist in die Reste der alten Burg eingepasst und strahlt Harmonie und Behaglichkeit aus; ich habe mich in diesem Haus immer sehr wohl gefühlt.

In den sechziger Jahren wurde die Fürsorge für Behinderte ein neuer Schwerpunkt in der sozialen Aufgabenstellung des Kreises. Er unterstützte die Eltern behinderter Kinder bei der Schaffung einer Tagesstätte im Franz-Hitze-Haus in Walsum, indem er durch erhebliche Kostenzuschüsse dessen spezifischen Ausbau ermöglichte. 1970, schon vor einer gesetzlichen Regelung, beschloss er die Errichtung einer eigenen Sonderschule. Er erwarb ein ehemaliges Schulgebäude in Bucholtwelmen und baute es zu dem modernen Förderschulzentrum „Waldschule“ aus. Ein nächster Schritt war die Unterstützung der Lebenshilfe bei der Schaffung einer Behindertenwerkstatt, die sich inzwischen mit vier Zweigbetrieben, in denen 550 behinderte Menschen arbeiten, zu einem ertragsbewußten Produktionsunternehmen entwickelt hat.

Wie im übrigen Ruhrgebiet beruhte auch im Kreis Dinslaken der wachsende Wohlstand auf der Kohle. Doch in den 50-er Jahren begann sie zu kriseln. 1958 waren 62 % der Industriebeschäftigten des Kreises im Bergbau tätig, so dass die Monostruktur des Kreises Anlass zu Besorgnis gab. Wirtschaftsförderung und Auflockerung der Wirtschaftsstruktur wurden das zentrale Thema der Kreispolitik. Daher wurde die Ansiedlung der BP-Ruhrraffinerie auf dem ehemaligen Truppenübungsplatz in Bucholtwelmen unter dem Oberkreisdirektor Richter als großer Erfolg gefeiert. Das war Anlass für die bisherigen Kleingemeinden Bucholtwelmen, Hünxe und Bruckhausen, sich zur größeren Gemeinde Hünxe zusammenzuschließen. Die Raffinerie wurde 1960 von Bundeswirtschaftsminister Erhardt eingeweiht. Sie schuf 600 Arbeitsplätze und verschaffte zahlreichen Gewerbebetrieben Einnahmen für Serviceleistungen.

Die Raffinerie sollte ihr Rohöl per Pipeline vom Umschlaghafen Wilhelmshaven beziehen und wollte ihre Produkte per Schiff, Bahn und Straße versenden.

Am Beginn des Lippe-Seiten-Kanals entstand daher ein auf ihre Bedürfnisse zugeschnittener zweiter Ölhafen. Er wurde von der Rhein-Lippe-Hafen GmbH gebaut; deren Gesellschafter waren die Kreise Dinslaken und Rees sowie Wesel und Voerde. Es konnte nun auch das von der mittelständischen Wirtschaft lange erwünschte Anschlussgleis von Bucholtwelmen zum Bahnhof Spellen durch die dafür als Eigenbetrieb gegründete Kreisbahn Dinslaken realisiert werden. Die Kosten für Hafen und Bahn wurden auf die BP und die anderen Interessenten umgelegt. Leider ist die Raffinerie aufgrund von Strukturveränderungen in der Mineralölwirtschaft 1985 stillgelegt worden. Nach einem Recycling des früheren Werksgeländes und ihrer Neuerschließung sind diese Flächen jetzt ein bedeutendes Potential des Lippemündungsraumes.

Das Preisdumping der Import-Kohle führte den Bergbau immer tiefer in die Krise. Die Zechen reagierten mit Aufhaldung, Rationalisierung und Arbeitsplatzabbau. Die Beschäftigtenzahl im Bergbau sank von 13.000 im Jahr 1958 auf 9.000 im Jahr 1971. Zur Stabilisierung des Bergbaus setzten Bund und Land vor allem auf die Kohleverstromung und die Herabsubventionierung der heimischen Kohle auf das Niveau der Import-Kohle durch den neu eingeführten „Kohlepfennig“, eine auf den Stromverbraucher abgewälzte Abgabe. Schon Mitte der fünfziger Jahre hatte das Verbundbergwerk Walsum unter seinem Vorstand Dr. Barking aus eigener Initiative ein mit ihm integriertes Kraftwerk errichtet. Als 10 Jahre später von der STEAG der Bau eines weiteren Kohlekraftwerkes in Möllen geplant war, sah sie sich mit ihren Befürwortern schärfsten Bürgerprotesten ausgesetzt, die selbst vor persönlichen Diffamierungen nicht Halt machten – damals war das jedenfalls neu. Aber aus Sorge um die Arbeitsplätze im Bergbau stimmte der Kreistag dem Vorhaben mit breiter Mehrheit zu. Das Kraftwerk ging 1971 in Betrieb und verbraucht jährlich 4 Millionen Tonnen Kohle, was damals der Jahresförderung eines Bergwerks entsprach.

Durch den Kreis wurde um die gleiche Zeit in Voerde im Einvernehmen mit der Gemeinde im Ortsteil Emmelsum eine Aluminiumhütte mit 550 Arbeitsplätzen angesiedelt. Auch sie diente wegen ihres kontinuierlich hohen Strombedarfs der Stabilisierung der Steinkohle und wurde daher vom Land großzügig gefördert. Hiergegen gab es die selben scharfen Proteste wie gegen das Kraftwerk.

Die Infrastrukturanforderungen des damals amerikanischen Unter-nehmens waren hoch, aber unter dem Druck der Bergbaukrise wurde vom Land alles voll finanziert. Die Kernforderung war ein Rheinhafen, in den Schubverbände, die die Tonerde von Rotterdam brachten, unaufgelöst einfahren können, womit zugleich der Standort des Werkes vorgegeben war. Für ihn mussten über 50 Einzelgrundstücke zu einem bestimmten Termin verfügbar sein, was der Kreis durch Verhandlungen seines Vermessungsdirektors Klein mit den Eigentümern erreichte. Der Kreis wurde auch Bauträger des Hafens und konnte nach Fertigstellung sogar einen erheblichen Betrag an das Land zurückgeben.

Neben dem Hafen erwarb der Kreis auf diese Weise noch weitere Industriegrundstücke und ein Bahngleis vom Hafen und vom Werk zum Bahnhof Spellen. Von nun an ist die gesamte Fläche südlich des Lippe-Seiten-Kanals vom Rhein bis Bucholtwelmen durch ein Bahngleis der Kreisbahn erschlossen. In Verbindung mit der Autobahn und der nördlich des Kanals verlaufenden Kreisstraße ist dies heute ein bedeutender Teil des Logistikstandorts Lippe-Mündungsraum, wo der Kreis Wesel und die Gemeinde Hünxe manchen modernen Betrieb haben ansiedeln können. Die Entwicklung dieses gesamten zukunftsträchtigen Raumes liegt bei der RheinLippe-Hafen GmbH, zu der jetzt als Gesellschafter auch Dinslaken und Hünxe gehören.

Insgesamt war die Wirtschaftsentwicklung im Kreis so erfolgreich, dass das Bruttoinlandsprodukt von 75 % des Landesdurchschnitts im Jahr 1957 auf 111 % im Jahr 1971 stieg, gegenüber 84 % aller Kreise im Land.

III.

Anfang der 60-er Jahre wurden bundesweit Raumordnung und Landesplanung gewichtige Politikfelder. Es ging um die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in allen Landesteilen und darum, ob die bestehenden Gemeinden und Kreise für die daraus folgenden Aufgaben die erforderliche Leistungsfähigkeit besitzen oder ob es dafür Gebietsänderungen bedürfe. Das wurde beurteilt aufgrund komplizierter moderner Theorien, zahlreicher wissenschaftlicher Untersuchungen und jeder Menge Statistik. Es wurde die Stunde der Landesplaner.

Nachdem die Landesregierung beschlossen hatte, auch für die Neugliederung des Ruhrgebietes an dem überkommenen Modell der Gemeinden und Kreise festzuhalten, wurden Anfang 1972 die Oberkreisdirektoren aufgefordert, Vorschläge zur Neugliederung ihrer Gemeinden zu machen. Unsere Gemeinden hatten sich bereits positioniert. Dinslaken und Walsum waren für eine modifizierte Großstadtlösung, Voerde wollte ungeteilt und selbständig bleiben, Hünxe und Gartrop strebten gemeinsam eine lippeüberschreitende Lösung an, Gahlen hatte bereits mit Dorsten einen Gebietsänderungsvertrag abgeschlossen. Ich bin der Idee Schluchtmanns und damit den Vorstellungen der Stadt Dinslaken gefolgt und habe die Bildung einer neuen Stadt Dinslaken vorgeschlagen, ohne Gartrop und Gahlen. An die Kreisfreiheit der neuen Stadt war jedoch nicht mehr zu denken, das Land hatte für die Kreisfreiheit eine Einwohnerzahl von 200.000 für Städte in dem unmittelbar an die Ballungskernstädte angrenzenden Gebiete vorgegeben; die neue Stadt Dinslaken käme aber nur auf 140.000 Einwohner. Der alte Kreis Dinslaken hätte in ihr daher nicht aufgehen können. Ausgangspunkt für den Vorschlag war die Stadt Dinslaken; der Kreis konnte es nicht sein, denn Kreise sind nur ergänzende Körperschaften. Sie war ein gut ausgestattetes Mittelzentrum in der Ballungsrandzone. Ihr Einzugsgebiet umfasste den gesamten Kreis, bis auf Gahlen, und sie sollte nach der Landesplanung zu einem Entwicklungszentrum erster Ordnung angehoben werden. Damit war die Stadt Kristallisationspunkt für den Anschluss weiterer Gemeinden.

Voerde hatte keinen Siedlungsschwerpunkt mit Ansätzen für ein Mittelzentrum. Als Gemeinde der Ballungsrandzone konnte es nach der Landesplanung daher nicht selbständig bleiben. Da die Verflechtungen mit Dinslaken nicht zuletzt wegen der angesiedelten Industrien bis Friedrichsfeld reichten, war es ungeteilt mit Dinslaken zu vereinigen.

Auch für die Ballungsrandgemeinde Hünxe sprach nicht nur die landesplanerische Präferenz für die Vereinigung mit seinem Mittel-zentrum, sondern es sprachen dafür auch wie bei Voerde eindeutige Verflechtungen.

Walsum gehörte zwar zur Ballungskernzone, wie das übrige Ruhrgebiet. Aber seine funktionalen Verflechtungen bestanden weit überwiegend mit Dinslaken. Es bildete mit Dinslaken sogar einen einheitlichen Lebensraum, schon ein Gutachten der Sachverständigenkommission für die Neugliederung hatte daher die Vereinigung mit Dinslaken nahegelegt.

Gartrop und Gahlen sollten wegen ihres ländlichen Charakters nicht in die neue Stadt einbezogen werden.

Soviel aus meiner Begründung für die Großstadtlösung. Im Frühjahr 1973 kamen als Diskussionsgrundlage die vorläufigen Vorschläge des Innenministeriums. Sie waren enttäuschend. Als erstes vermisste man den Vorschlag zur Bildung der angestrebten Großstadt. Dafür war für Walsum in erster Linie die Eingemeindung nach Duisburg vorgeschlagen. Es war daher, getrennt vom übrigen Kreisgebiet, dem Neu-gliederungsraum Ruhrgebiet zugeordnet. Das beruht auf einer Intervention aus Moers, mit der man sich während der administrativen Vorüberlegungen dagegen verwahrte, dass nach ihnen Duisburg linksrheinisch weit in die Ballungsrandzone hinausgreifen solle, während es rechtsrheinisch nicht einmal den Ballungskern voll erfasse.

Aber Walsum findet sich auch im Vorschlag für den Niederrhein mit dem übrigen Kreis wieder, wo alternativ auch der Zusammenschluss mit Dinslaken nahegelegt wurde. Primär sollte Dinslaken allerdings nicht um Walsum, sondern um Eppinghoven, Bruckhausen und die südliche Hälfte von Voerde vergrößert werden. Dessen nördliche Hälfte sollte dann zusammen mit Bucholtwelmen Wesel zugeschlagen werden. Von einem Selbständigbleiben Voerdes war also nicht die Rede. Das skelettierte Hünxe und Gartrop sollten mit Drevenack eine neue Gemeinde bilden, und Gahlen sollte mit Schermbeck vereinigt werden.

In Bezug auf Voerde und Hünxe wurde in dem Diskussionspapier ebenfalls eine Alternative aufgezeigt. Danach könne die Gemeinde Voerde auch ungeteilt mit dem angrenzenden Bucholtwelmen, beide aber ohne das Gebiet zwischen Lippe-Seiten-Kanal und Lippe, nach Dinslaken eingegliedert werden. Denn die dortigen Industrien seien aus wirtschaftlichen Bedürfnissen mit Mitteln des Raumes Dinslaken angesiedelt worden.

Mit diesem und kombiniert mit dem Alternativvorschlag für Walsum war indirekt auch der Zusammenschluss von Dinslaken mit Walsum und einem ungeteilten Voerde offen gehalten.

Nach zahlreichen Anhörungen folgten in der zweiten Jahreshälfte 1973 die Gesetzesentwürfe. Sie hielten sich ausschließlich an die Hauptvorschläge der vorangegangenen Diskussionsentwürfe. Alter-nativen gab es nicht. Walsum sollte also definitiv nach Duisburg eingemeindet werden. Aber bei allen Gesetzesentwürfen bleibt die Chance, dass sie in der parlamentarischen Beratung geändert werden; daran knüpfte sich hier einige Hoffnung. Immerhin war das ursprünglich nicht vorgesehen, auch hatte das Innenministerium ja in seinem Diskussionsentwurf zu einem alternativen Zusammenschluss mit Dinslaken festgestellt, das Hamborn durch die Eingemeindung Walsums nicht gestärkt würde und Duisburgs Entwicklung mehr auf die linke Rheinseite gerichtet sei. Walsum spielte also für die Neuordnung Duisburgs zunächst nur eine Nebenrolle, und schien daher verhandelbar.

Von wirklich strategischem Interesse war für Duisburg allein der linksrheinische Raum um Moers; er nahm daher sowohl in den Vorarbeiten als auch in der Gesetzesbegründung breiten Raum ein. Denn hier wurde die Entstehung einer echten Konkurrenzsituation erwartet, die eine Aufwertung der schwachen oberzentralen City behindern würde. Sowohl die Vorarbeiten wie der spätere Gesetzentwurf sahen daher alternativlos die Eingemeindung des gesamten Moerser Einzugsbereichs bis Neukirchen-Vluyn vor. Aber das wurde schon zu Beginn der parlamentarischen Beratung als exzessiv verworfen und sogleich reduziert auf den engeren großstädtischen Verflechtungsbereich; als der wurden die Umlandgemeinden der Ballungskernzone ausgemacht, also linksrheinisch insbesondere Homberg und Rheinhausen, rechtsrheinisch war das Walsum. Damit war Walsum nun nicht mehr Nebensache, sondern war plötzlich wesentlicher Bestandteil einer spontanen Alibilösung für das Neugliederungsproblem Duisburg. Walsums Schicksal stand damit fest. Nur der Verzicht auf diese Behelfslösung überhaupt hätte Walsum noch retten können. Das ist in der Tat von einigen einflussreichen linksrheinischen Abgeordneten noch in letzter Minute versucht worden mit der Begründung, dass diese Eingemeindungen für Duisburg ohne jeden Nutzen seien, sie seien eine rein politische Lösung. Genau deshalb musste dieser Versuch auch scheitern. Damit war auch das Projekt Großstadt Dinslaken tot.

Auch im Fall Voerde und Hünxe war der Gesetzentwurf kompromisslos, er zielte auf Teilung. Damit entsprach er der nachdrücklichen Forderung Wesels, Friedrichsfeld und Bucholtwelmen einzugemeinden; der Südteil Voerdes und Bruckhausen sollten entsprechend nach dem Gesetzes-entwurf nach Dinslaken eingemeindet werden. Der Leiter der Neugliederungsgruppe im Innenministerium sah in Voerde nur eine Ansammlung von Ortschaften, um die eine Gemeindegrenze gezogen sei. Für viele war die Neugliederung hier wohl schon so gut wie gelaufen; Wesels Bürgermeister hielt sogar schon einmal eine Pressekonferenz mitten in Voerde ab. Es war daher die ganz große Überraschung, als der Landtag sich über die Argumentation des Ministeriums hinwegsetzte und beschloss, dass Voerde selbständig und ungeteilt bleibt, bis auf die Flächen zwischen Lippe-Seiten-Kanal und Lippe; selbst Innenminister Willy Weyer protestierte dagegen. Entsprechend behielt Hünxe Bucholtwelmen bis zur Kanalfront und außerdem Bruckhausen. Dinslaken verblieb jetzt von dem ihm im Gesetzentwurf zugedachten Zuwachs nur Eppinghoven; aber zugleich musste es den Verlust seines Gebietsanteils am Wohnungswald östlich der Voerder Straße hinnehmen, der wurde nach Voerde eingemeindet, weil er dort mehr Schutz erwarten könne, wie in den Zeitungsberichten zu lesen war.

Dem Beschluss des Landtages war allerdings intensive Lobbyarbeit vorausgegangen. So haben Bürgermeister Pakulat und Gemeindedirektor Urban permanent den Landtag aufgesucht und ihn geradezu belagert, um für Voerde zu werben. Dabei hatten sie in dem Friedrichsfelder Abgeordneten Pauly einen findigen Strippenzieher, dem es in dem Gestrüpp der Interessen gelang, quer durch die Fraktionen die notwendigen Allianzen zustande zu bringen. Besonders bauen konnte er dabei auf den FDP-Abgeordneten Neu, der aus Krudenburg stammte und für Hünxe unterwegs war.

Nach Abschluss der Neugliederung stellt sich die Frage, was sie denn für den sich als Einheit verstehenden Raum Dinslaken gebracht hat. Die Antwort kann nur negativ sein, hier wurde eine erfolgreiche Einheit zerschlagen, statt sie zu stärken. Aus Walsum ist ein vergessener Stadtteil geworden, Voerde und Hünxe sind haarscharf an der Teilung vorbei geschrammt und haben interessante Industrieflächen verloren. Dinslaken ist um einige Einwohner gewachsen, hat aber ein beliebtes Stück Naherholungsgebiet eingebüßt, die Gemeinden des Amtes Gahlen sind nicht mehr in einen Amtsverband eingebunden, aber haben dafür ihre autonome Gestaltungsmacht eingebüßt.

Der Kreis Dinslaken existiert nicht mehr. Er zeichnete sich neben seiner Leistung auch durch seine Bürgernähe aus, zu der auch seine geringe Größe beitrug. Bürgernähe ist auch das Bestreben seines Nachfolgers, des Kreises Wesel, gerade wegen seiner Größe, auch seine Leistung kann sich sehen lassen; aber das Zusammenwachsen der Bevölkerung wird durch den Rhein zumindest sehr erschwert. Für seinen Gebietszuschnitt hatten sich auch andere Lösungen anerkannter Autoritäten angeboten. Die Gründe, weshalb man die rhein-überschreitende Lösung gleichwohl beschlossen hat, bedürfen näherer Darlegung.

Auch die Kreisneugliederung wurde vorwiegend an raumordnerischen Zielsetzungen orientiert; historische, traditionelle und ähnliche Zusammenhänge hatten ausdrücklich zurückzutreten. Damit war für den Niederrhein als herausragendes Element der Raumordnung die Rheinachse mit ihrer Bündelung von Verkehrs- und Versorgungsbändern in den Mittelpunkt der Entscheidung gerückt. An der Rheinachse, so wird ausgeführt, habe sich in letzter Zeit auch am Niederrhein eine rasche Entwicklung angebahnt, die in ihrem Schnittpunkt mit der Lippeachse ihren Ursprung habe. Zu dem größeren Raum, der durch die Entwicklung in diesem Schnittpunkt beeinflusst werde, gehörten rechtsrheinisch Wesel und Dinslaken, linksrheinisch „zumindest“ Rheinberg, das durch die damals erwartete VEBA-Ansiedlung „eine rasche Entwicklung nehmen“ werde; dabei handelte es sich um ein gigantisches petro-chemisches Kombinat im Orsoyer Rheinbogen. Auch Kamp-Lintfort lasse sich „mit gewissen Einschränkungen“ zum Bereich des weiteren Lippemündungs-raumes rechnen. Die gegenseitigen Abhängigkeiten der zu diesem Raum gehörenden Gemeinden beiderseits des Rheins würden steigen, zumal bei weiteren Industrieansiedlungen in diesem Raum die Umwelt-belastungen des Gesamtraumes zunehmend berücksichtigt werden müssten. „Die Berücksichtigung der künftigen Entwicklung macht es zwingend erforderlich, auch den südlichen Bereich des nieder-rheinischen Raumes in einem rheinüberspannenden Kreis zusammenzufassen“.

Das für die Einheit des Kreises Dinslaken desaströse Ergebnis der Neugliederung warf auch die weitere Frage auf, ob das nicht durch eine rechtzeitige freiwillige Vereinigung hätte verhindert werden können, so wie sie Schluchtmann vorgeschwebt hatte. Das ist sicherlich anzunehmen. Dieses Thema war bei Heranziehen der Neugliederung auch Gegenstand zahlreicher Diskussionen auf allen Ebenen der Politik und der Verwaltungen, nicht zuletzt aufgrund von Initiativen der Stadt Dinslaken. Aber Schluchtmanns Vision hatte den Gemeinden ihren Status quo erhalten, sie einem konkreten Vereinigungsdruck jedoch nicht ausgesetzt. Sie sahen daher auch in einer freiwilligen Vereinigung in erster Linie einen Schritt, der mit der Aufgabe von Selbständigkeit und Einfluss verbunden gewesen wäre, von ihrer ablehnenden Haltung ließen sie sich auch nicht durch den Dinslakener Vorschlag einer Ortschafts-verfassung abbringen. Dabei hatte Walsum seine Situation allerdings falsch eingeschätzt und ist so zu spät eingeschwenkt; aber zwischen den beiden Städten Walsum und Dinslaken war das Klima lange Zeit vergiftet. Mit der Neugliederung ist Schluchtmanns Vision verflogen.

Den beabsichtigten großen Wurf hat sie nicht gebracht, aber ihr hat es der Kreis Dinslaken zu verdanken, dass er bis 1975 überlebte. In den 65 Jahren seines Bestehens hat er manche Akzente gesetzt und es haben sich auch Bindungen entwickelt, die die Neugliederung überdauert haben. So sind die drei aus dem Kreis übriggebliebenen Gemeinden Dinslaken, Voerde und Hünxe gemeinsam Träger der Volkshochschule und der Sparkasse, sie sind sich verbunden geblieben in ihrer Mitgliedschaft beim Flugplatz „Schwarze Heide“ und bei der Rhein-Lippe-Hafengesellschaft. Auch die Heimatvereine, selbst der Walsumer, sind weiter im Dachverband „Land Dinslaken“ vereint.

Der Kreis Dinslaken existiert nun schon 35 Jahre nicht mehr, aber er hat bis heute deutlich sichtbare Spuren hinterlassen.

Anlass:

Mitgliederversammlung des Vereins für Heimatpflege Land Dinslaken e.V.

Datum:

17.11.2016

Ort:

Rathaus Dinslaken

Autor:

Hans-Hermann Bison

Wenn man sich die Frage stellt, was für die Geschichte von Land und Stadt Dinslaken wichtige Jahre waren, sollte man auch das jetzt 200 Jahre zurückliegende Jahr 1816 nennen. Damals wurde Dinslaken erstmals Kreisstadt.

Wie waren die damaligen Zeitumstände? Nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft, die ganz Europa umgekrempelt hatte, wurde auf dem Wiener Kongress 1814/15 Europa neu geordnet. Als Ergebnis dieses Kongresses erhielt Preußen das ganze Rheinland, nachdem es dort zuvor nur mit dem Herzogtum Kleve, also auch mit Dinslaken, am Rhein vertreten war. Preußen hätte damals viel lieber das an das preußische Kerngebiet angrenzende Sachsen mit seinen reichen Bodenschätzen hinzubekommen. Aber Preußen wurde vom Kongress gleichsam die „Wacht am Rhein“ gegen Frankreich übertragen.

Die Preußen waren immer schon eifrige Organisatoren. So ordneten sie auch das Rheinland 1815 neu nach ihren Vorstellungen. Dabei wurde ein Regierungsbezirk Kleve gebildet, der aus sechs Kreisen bestand. Einer davon war der Kreis Dinslaken. So war Dinslaken 1816 mit damals nur 1.200 Einwohnern erstmals Kreisstadt geworden.

Der Kreis Dinslaken von 1816 umfasste außer Dinslaken noch Duisburg, Gahlen (Hünxe), Götterswickerhamm (Voerde), Holten, Ruhrort und Schermbeck. Es ist heute kaum noch nachvollziehbar, dass Duisburg einst Teil des Kreises Dinslaken war. Landrat war Julius von Buggenhagen, der in den letzten Jahren durch einen Heimatfreund wieder publik gemacht wurde.

Wir haben heute, 200 Jahre nach der ersten Kreisgründung, leider keinen Anlass, ein Jubiläumsfest zu feiern. Bereits 7 Jahre nach seiner Gründung ging es mit dem ersten Kreis Dinslaken schon wieder zu Ende.

Nachdem 1822 der Regierungsbezirk Kleve schon aufgelöst und mit Düsseldorf zusammengefasst worden war, wurde der Kreis Dinslaken 1823 mit Ausnahme von Schermbeck, das dem Kreis Wesel/Rees zugeschlagen wurde, dem neuen Kreis Duisburg einverleibt. Das gleiche Schicksal hatte damals auch der Kreis Essen. Man erkennt an diesen Veränderungen, dass der Trend zu immer größeren Gebiets-körperschaften nicht erst eine Erfindung des Industriezeitalters war.

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts erfolgten noch weitere Gebietsänderungen in unserer Region. So gehörte Dinslaken ab 1873 zum Kreis Mülheim, ab 1887 zum Kreis Ruhrort.

Die industrielle Entwicklung des Ruhrgebietes mit ihrem gewaltigen Bevölkerungszuwachs führte in kurzen Abständen, vor allem ab 1900, zu weiteren kommunalen Veränderungen. Für Dinslaken war dabei von besonderer Bedeutung, dass seine Kreisstadt Ruhrort 1905 in die 1873 kreisfrei gewordene Stadt Duisburg eingemeindet wurde. Es war also die Kuriosität entstanden, dass der Kreissitz Ruhrort außerhalb des Kreisgebietes lag. Dies brachte die Diskussion zu einer Änderung in Gang. Dabei sah Dinslaken seine Stunde gekommen. Durch das seit 1897 in Betrieb befindliche und wirtschaftlich florierende Thyssen‘sche Bandeisenwalzwerk hatte Dinslaken eine neue Entwicklung genommen, vor allem auch hinsichtlich seiner Steuerkraft.

Der „Statthalter“ von August Thyssen in Dinslaken, Walzwerksdirektor Julius Kalle, wurde zum einflussreichen Wortführer für die Verlegung des Kreissitzes von Ruhrort nach Dinslaken. Nach heftigen Diskussionen fasste der Ruhrorter Kreistag im Mai 1907 einstimmig einen entsprechenden Beschluss. Dabei spielte sicherlich auch eine Rolle, dass die Stadt Dinslaken als Eigentümerin des Kastells (heute Rathaus) dieses kostenlos als neues Landratsamt anbot. Im September 1907 folgte die kaiserliche Genehmigung, Dinslaken zum Kreissitz zu machen.

Ab 1909 arbeitete die Kreisverwaltung im bis dahin grundlegend neu- gestalteten Kastell. Der Kreis Dinslaken bestand bei seiner Gründung aus folgenden Städten und Gemeinden:

  • Dinslaken
  • Gahlen (Hünxe)
  • Götterswickerhamm (Voerde)
  • Hamborn
  • Hiesfeld
  • Sterkrade mit Holten
  • Walsum

Schon bald nach Gründung des zweiten Kreises Dinslaken war die Rede davon, dass er wohl nicht lange bestehen würde. Dabei spielte eine Rolle, dass im Jahr 1911 Hamborn aus dem Kreis ausschied und zur kreisfreien Stadt wurde. 1913 schied auch Sterkrade aus dem Kreis aus.

In der Weimarer Zeit kam es erneut zu Diskussionen über den Fortbestand des inzwischen klein gewordenen Kreises Dinslaken. Vor allem dem damaligen Landrat Schluchtmann ist es zu verdanken, dass der Kreis bestehen blieb. In der NS-Zeit kam dieses Thema offenbar nicht zur Sprache und nach 1945 waren die Themen des Wiederaufbaues wichtiger.

In den 1970er Jahren kam in Nordrhein-Westfalen eine Diskussion über grundlegende kommunale Neuordnungen in Gang. Jahrelang wurde in Kommissionen über die bestmögliche Lösung diskutiert und hart gestritten.

Das zum 01.01.1975 wirksam gewordene Ergebnis war für Dinslaken enttäuschend. Der Kreis Dinslaken wie auch der viel größere Kreis Moers wurden aufgelöst. Dinslaken wie auch Voerde und Hünxe wurden Teil des neuen Kreises Wesel, Walsum wurde nach Duisburg eingemeindet. Voerde konnte sich nur mühsam retten, büßte aber in wirtschaftlicher Hinsicht zugunsten von Wesel an Einfluss ein. Hünxe musste zwar Gahlen abgeben, gewann aber größere Gebiete nördlich der Lippe bis vor die Tore von Brünen dazu.

Die Traumvorstellung von Dinslaken, den Kreis Dinslaken zu einer Großstadt Dinslaken werden zu lassen, ließ sich nicht realisieren. Hierzu wäre auch eine größere Übereinstimmung zwischen den Kommunen des Kreises notwendig gewesen.

Anlass:

Mitgliederversammlung des Vereins für Heimatpflege Land Dinslaken e.V.

Datum:

22.11.2012

Ort:

Museum Voswinckelshof

Autor:

Hans-Hermann Bison

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Heimatfreunde!

Die Einladung zu unserer Versammlung hat es bereits angekündigt: Wir wollen heute Willi Dittgen in Erinnerung rufen und damit einen Mann ehren, dessen Verdienste um unseren Verein und die Erforschung der Geschichte von Stadt und Land Dinslaken gar nicht hoch genug eingeschätzt werden können.

Willi Dittgen wäre heute vor vier Tagen 100 Jahre alt geworden. Er ist am 21. März 1997, also vor nunmehr fast 16 Jahren, im Alter von 84 Jahren verstorben. Sein Grab befindet sich auf dem Parkfriedhof an der B8.

Wie sehr Willi Dittgen vor allem als Buchautor weit über Dinslaken hinaus unverändert aktuell ist, wurde mir kürzlich in faszinierender Weise wieder deutlich:

In der renommierten Wochenzeitung „Die Zeit“ vom 31. Oktober 2012 erschien ein ganzseitiger Aufsatz im Zusammenhang mit den damals bevorstehenden Präsidentenwahlen in den USA. Ein Aufsatz aus der Feder eines bedeutenden Historikers, der an den Universitäten Münster und Hamburg lehrt. Dieser Historiker kommt auf einen der ersten Präsidenten der USA, den berühmten Thomas Jefferson zu sprechen und nennt dabei als seine wichtige Quelle – ich zitiere wörtlich - : „den Dinslakener Historiker Willi Dittgen“ und dessen 1991 erschienenes Buch „Jeffersons Rheintour“, ein Buch auf das ich später noch zurückkomme.

Wann ist jemals in der „Zeit“ der Name Dinslaken gefallen? Ich erinnere mich jedenfalls an keinen entsprechenden Fall. Da kann man nur sagen, kostenlose Stadtwerbung auf hohem Niveau, dank sei Willi Dittgen.

Liebe Heimatfreunde!

In der Einladung für heute werde ich als „langjähriger Weggefährte“ von Willi Dittgen bezeichnet, was in der Tat zutrifft. Deshalb sah ich auch keine Chance, mich der Bitte zu entziehen, heute Willi Dittgen in Erinnerung zu rufen. Wenn ich nachdenke, seit wann ich ihn kannte, kommt mir folgendes Bild in Erinnerung:

Bald nach Kriegsende, sagen wir 1946/47, nahm ich meinen täglichen Schulweg aus der Altstadt durch das nach allen Seiten offene und noch etwas wüst aussehende Burgtheater zum heutigen Theodor-Heuss-Gymnasium, wo in den auf dem Schulhof errichteten Baracken unterrichtet wurde. Zur gleichen Zeit nahm Willi Dittgen täglich seinen Weg von der Wohnung in der Goethestraße durch das Burgtheater zum Dienst in Baracken der damaligen Kreisverwaltung. Die Baracken standen dort, wo sich heute der Ententeich zwischen Rathaus und Stadthalle befindet.

Jeden Morgen begegneten wir uns zur gleichen Zeit auf der Bühne des Burgtheaters, ich der 16-jährige Schüler, er der auf mich trotz der miserablen Zeit seriös wirkende Mittdreißiger auf dem Weg zum Dienst als neuer Leiter des Kultur- und Presseamtes sowie der Volkshochschule des Kreises Dinslaken. Aus diesen täglichen Begegnungen wurde zunächst ein Grußverhältnis, bald aber mehr.

Liebe Heimatfreunde!

Es kann heute nicht meine Aufgabe sein, Willi Dittgen in seiner Gesamtheit in Erinnerung zu rufen und zu würdigen. Für seinen ganzen Berufsweg bei der Kreisverwaltung etwa habe ich keine Kompetenz. Ich möchte mich deshalb konzentrieren auf den ehrenamtlichen Teil seines Wirkens, vor allem auf sein Wirken in unserem Verein und auf seine wichtigsten Publikationen.

Zunächst aber ein kurzer Streifzug durch seine Biografie. Ich beginne mit einem Makel. Entgegen der allgemeinen Vermutung ist Willi Dittgen gar nicht in Dinslaken geboren. Er kam am 18. November 1912 in Düsseldorf zur Welt. Die Familie zog dann aber wegen Berufswechsels des Vaters zum Dinslakener Bandeisen­walzwerk schon 1917 nach Dinslaken, genauer gesagt nach Hiesfeld. Hiesfeld wurde just in diesem Umzugsjahr nach Dinslaken eingemeindet. Damals wohnten von den etwa 2.000 Be­schäftigten des Bandeisenwalzwerkes viele in Hiesfeld. Für diese gab es an der Krengelstraße ein Werkstor, das unser Verein zur Verbesserung der Rotbach-Route heute wieder geöffnet sehen möchte.

Nach einigen Jahren zog die Familie Dittgen dann aber um zur damaligen und heutigen Friedrichstraße, also ganz nah an das Walzwerk heran. Von diesem Wohnstandort aus bildeten sich dann Dittgens Schüler- und Jugendeindrücke.

Er besuchte die Volksschule an der Goethestraße (damals „Kaiser-Wilhelm-Schule“), anschließend das heutige „Theodor-Heuss-Gymnasium“, damals die einzige höhere Schule in Stadt und Kreis Dinslaken. Dort bestand er 1932 das Abitur.

Ich habe mir die Liste der damals 14 Abiturienten angesehen, weitgehend bekannte Dinslakener Namen. Von den 14 dürfte nur die Hälfte den 2. Weltkrieg überlebt haben. Zu den Gefallenen gehört auch der einzige Dinslakener „Ritterkreuzträger“, Willi Cirener.

Liebe Heimatfreunde!

Mit dem Abitur stellte sich für Willi Dittgen die Frage nach seiner weiteren Ausbildung und seinem Berufsziel. Diese Frage war im Jahre 1932, gleichsam im Tiefpunkt der Weltwirtschaftskrise, als gerade gehobene Berufe als aussichtslos erschienen, äußerst schwierig. Willi Dittgen folgte dem Rat seines Deutschlehrers Dr. Josef Zorn, der für Willi später noch ganz schicksalhaft werden sollte. Zorn hatte erkannt, dass sein Schüler ein exzellenter Formulierer war und spannende Geschichten zu Papier bringen konnte. Er riet deshalb, werde Journalist.

In den folgenden Jahren, also in der Zeit des Nationalsozialismus, waren die Verhältnisse für einen jungen Journalisten, der von der katholischen Jugendbewegung geprägt war und mit dem Nationalsozialismus nichts zu tun haben wollte, natürlich sehr schwierig. Dittgens Tätigkeit in einer Duisburger Zeitungsredaktion endete damit, das SA-Leute die Redaktion besetzten und die Journalisten hinausschmissen.

Bald nach Kriegsbeginn wurde Willi Dittgen Soldat. Die Soldatenuniform war die erste, die er trug. Artillerie wurde seine Waffengattung. Die meisten Kriegsjahre war er an der russischen Front eingesetzt, vor Moskau und im Kaukasus.

Sein damals schon ausgeprägtes Interesse an Historie und deren Dokumentation führte dazu, dass er über seine Soldatenzeit ein erhalten gebliebenes Kriegstagebuch führte. Darin ist auch sein erschütterndstes Kriegserlebnis festgehalten: Die Flucht der deutschen Einheiten von der Krim im Mai 1944. Es war eine mit „Stalingrad“ vergleichbare Tragödie. Willi überlebte als einziger seiner Einheit gleichsam wie ein Wunder die Flucht von Sewastopol mit einem schlauchbootähnlichen Fahrzeug über das Schwarze Meer zur rumänischen Küste. Willi hat viel veröffent­licht, aber zur Veröffentlichung seines äußerst umfang­reichen Kriegstagebuches ist er nicht gekommen. Vielleicht wollte er auch seine schaurigen Erinnerungen nicht wieder hochkommen lassen.

In der Endphase des Krieges war er Teilnehmer an der Ardennenschlacht, geriet danach in den Ruhrkessel und kam schließlich im Siegerland in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Er hatte ohne bleibende körperliche Schäden überlebt.

Den Sommer 1945 verbrachte er im Kriegsgefangenenlager Attichy, nahe Paris. Dies hatten die Amerikaner für 10.000 deutsche „Kindersoldaten“ – unter 18 Jahre alt – zu deren Umerziehung eingerichtet. Willi wurde als Lehrer für Deutsch und Englisch in diesem Lager eingesetzt. Seine Erinnerungen an diese Zeit hat er festgehalten in einer 1957 erschienenen 50-Seiten-Broschüre, sehr lesenswert. Von Willi stammen nicht nur der Text, sondern auch die illustrierenden Zeichnungen. Er konnte nicht nur schreiben, er war halt auch ein sehr talentierter Zeichner.

Im September 1945 kam Willi Dittgen als freier Mensch in das zerstörte Dinslaken zurück. Zerstört war auch die elterliche Wohnung auf der Friedrichstraße. Nicht zurück kam sein 1944 gefallener Bruder.

Liebe Heimatfreunde!

Es gehört zur Realität, dass eine für das Leben oft entscheidende Weichenstellung einem Zufall zu verdanken ist. Ein solcher Zufall widerfuhr Willi Dittgen im Herbst 1945 auf einer Dinslakener Straße. Er begegnete seinem früheren Lehrer Dr. Zorn, der als von der Besatzungsmacht eingesetzter Landrat und Bürgermeister damals großes Gewicht hatte. Zorn sah in seinem inzwischen 33 Jahre alten ehemaligen Schüler den geeigneten Mann, in Stadt und Kreis Dinslaken aus den Trümmern des Nationalsozialismus und des Krieges ein neues Kulturleben entstehen zu lassen. Willi trat Anfang 1946 in die Dienste der Kreisverwaltung und übernahm die Leitung des Kultur- und Presseamtes und der im Aufbau befindlichen Volkshochschule. Er wurde gleichsam der „Kultusminister“ des Kreises und blieb es fast 30 Jahre bis zur Auflösung des Kreises Dinslaken.

Sein Dienstverhältnis entwickelte sich zu dem idealen Fall, wo Hobby und Pflichten identisch sind. Oberkreisdirektoren und Landräte kamen und gingen, Willi Dittgen blieb im Amt und verkörperte Kontinuität. Dies ist der Kreis-Dinslakener Kultur gut bekommen.

Liebe Heimatfreunde!

Etwas breiter auf das Leben von Willi Dittgen einzugehen erfordert, auch seine Frau Gertrud zu erwähnen. Sie heirateten 1950 und errichteten ihren dauerhaften Wohnsitz 1955 mit dem gediegenen Haus an der Hagenstraße. Dort wuchsen die drei Kinder auf und es herrschte ein glückliches Familienleben. Dazu trug wohl auch bei, dass zwischen den Eheleuten Dittgen eine geregelte Arbeitsteilung bestand. Wie glaubwürdig berichtet wurde und ich auch selbst erleben konnte, war Frau Gertrud für alles zuständig, was mit Organisation, Verwaltung und Finanzen zu tun hatte, letztlich für alles, was beamtenmäßig zu erledigen war. Willi soll selbst nie gewusst haben, was er verdiente. Er schrieb ausgewachsene Bücher, aber Zahlungsanweisungen ausfüllen, das konnte nur Frau Gertrud. In diese Arbeitsteilung passte auch, dass Willi keinen Führer­schein hatte. Fahrer der Familie war Frau Gertrud. Sie kutschierte ihn jahraus jahrein zu den unzähligen Ver­anstaltungen und Orten seines Interesses, gerade auch dann, wenn es um seine Aufgaben in unserem Verein ging. Wir haben allen Anlass, auch an Frau Gertrud Dittgen in Dankbarkeit zu erinnern, die ihren Mann noch eine Reihe von Jahren überlebt hat und an seiner Seite beigesetzt ist.

Ich komme zu Willi Dittgen und unserem Verein, dessen Vorsitzender von 1946 – 1950 der schon wiederholt genannte Dr. Zorn war. Ich bin sicher, dass Zorn irgendwann seinen Mitarbeiter Dittgen zur Seite nahm und ihn zum Geschäftsführer unseres heutigen Vereins schlichtweg ernannte. Willi Dittgen wird bewusst gewesen sein, dass sich dieses Geschäftsführer­amt sehr gut mit seiner beruflichen Arbeit für den Kreis Dinslaken ergänzte. Diese Aufgabenkombination hatte Bestand bis zum Ende des Kreises Dinslaken und brachte für beide Seiten großen Gewinn.

Als unser Geschäftsführer für fast ein halbes Jahrhundert wurde Willi Dittgen immer mehr zum eigentlichen Motor unseres Vereins, stets im besten Einvernehmen mit den jeweiligen Vorsitzenden. Artur Benninghoff könnte aus seiner langen Amtszeit als Vorsitzender hierzu sicherlich große Loblieder auf Willi Dittgen anstimmen. Sein Ideenreichtum ließ immer neue Aktivitäten zur Entfaltung kommen. Da er mit der Geschichte und Kultur von Stadt und Land Dinslaken vertraut war wie kein Zweiter, hatte sein Wort Gewicht, was unserem Verein sehr zugute kam.

Bei allem Ansehen, das Willi Dittgen genoss, er blieb ein bescheidener Mensch und mit den Personen seines Umfeldes auf Augenhöhe. Er war ein Mann, der Kontakte schuf und Kontakte pflegte. Der heutige Begriff des „Netzwerkers“ könnte auf ihn passen. Laufende Kontakte pflegte er zu seinen heimatkundlichen Kollegen, die er sehr schätzte. So sprach er immer mit großer Hochachtung von den „Altmeistern“ unserer Heimatkunde wie Walter Neuse, Berthold Schön und Elmar Sierp.

Aber auch in den langjährigen Vorsitzenden unserer Mitgliedsvereine, wie etwa Kurt Altena, Fritz Endemann, Helmut Schorsch und Karl Tenhagen sah er für sich wichtige Gesprächspartner.

Liebe Heimatfreunde!

Es war ein Glücksfall, dass unser Verein Willi Dittgen so lange hatte. Als er mich 1989 – er war damals 77 Jahre alt – als stellvertretenden Geschäftsführer vorschlug, hatte ich erhebliche Bedenken, ob ich in seine großen Schuhe einige Jahre später einmal hineinpassen würde.

Das Wirken von Willi Dittgen hat alle Anerkennungen gefunden, die denkbar waren:

1976 wurde er einer der ersten Ehrenrentmeister des Heimatvereins Dinslaken,

1983 erhielt er den „Rheinlandtaler“ des Landschaftsverbandes,

1984 das Bundesverdienstkreuz,

1996, ein halbes Jahr vor seinem Tod, den „Dinslakener Pfennig“.

Manche von uns werden sich noch an die schöne Feier in Krudenburg erinnern. In eindrucksvollen Ansprachen ehrten ihn Artur Benninghoff und Wilfrid Fellmeth, damals Dinslakener Bürgermeister. Der Geehrte, sonst in Bescheidenheit nur wenig von sich redend, zog abschließend gleichsam die Summe seines Lebens.

2003, der Historische Burgaufgang zum Innenhof des jetzigen Rathauses wird nach Willi Dittgen benannt.

Liebe Heimatfreunde!

Dass Willi Dittgen auch über den heutigen Tag hinaus noch lange unvergessen bleiben wird, dafür wird allein schon die Fülle seiner Publikationen sorgen. Wenn ich von seinen Publikationen spreche, verstehe ich darunter ausgewachsene Bücher wie auch schmalere Broschüren und Jubiläumsschriften, aber auch die fast nicht zu übersehende Vielzahl seiner Aufsätze in Heimatkalendern und anderen Schriften. Er selbst spricht von 15 Büchern, alles in allem wird man mit 100 Titeln nicht auskommen. Allen seinen Texten ist gemeinsam, dass sie für einen jeden leicht lesbar sind, man braucht nicht Geschichte studiert zu haben. Er selbst hat es ja auch nur als Autodidakt getan, was seine schriftstellerische Leistung noch mehr heraushebt.

Nur einen Teil der heimatkundlichen Literatur, die wir Willi Dittgen verdanken, kann ich erwähnen:

Die von ihm als Schriftleiter verantworteten Heimatkalender aller Jahre von 1950 bis zur Auflösung des Kreises Dinslaken 1975 stellen unverändert eine überaus wichtige Quelle zur Geschichte und Kultur von Stadt und Land Dinslaken dar. Fast in jedem Jahr war er mit meist mehreren eigenen Aufsätzen beteiligt. Es lohnte immer, diese zu lesen.

Als der Kreis Wesel sich entschloss, ab 1980 eigene Heimatkalender, sprich „Jahrbücher“ herauszugeben, war Willi der Geburtshelfer. Für die ersten vier Jahre lag die Schriftleitung bei ihm. Auch viele Beiträge stammen von ihm selbst.

Nicht zu überschätzen sind auch seine Verdienste um die Buchreihe unseres Vereins „Veröffentlichungen zur Geschichte und Heimatkunde“. In dieser Reihe erschienen seit 1956 31 Bände. Vier besonders gelungene stammen aus seiner Feder:

„Anno Tobak“, „Zwischen den Kriegen“, „Der Übergang“ und „Stationen“, erschienen zwischen 1973 und 1986.

Auch beim Landschaftsverband Rheinland war Willi Dittgen als Autor bekannt und gefragt für die Reihe „Rheinische Kunststätten“. So stammen aus seiner Feder die Hefte über die „St.-Vincentius-Kirche“ und die „Gemeinde Hünxe“. Für Hünxe und seine Geschichte empfand er übrigens immer eine stille Liebe.

Erwähnen möchte ich auch Dittgens jahrzehntelange Funktion gleichsam als „Haushistoriker“ der Sparkasse. So formulierte er die Jubiläums-schriften zu deren 100-jährigem und 125-jährigem Bestehen in den Jahren 1956 und 1981. Über viele Jahre produzierte er auch die beliebten Wandkalender der Sparkasse zu jeweils einem bestimmten heimatkundlichen Thema wie etwa „Historische Mühlen“, „Herrensitze“ oder „Der Rhein“. Die von vielen als so erfreulich empfundene Einbindung unserer Sparkasse in die Geschichte des Landes Dinslaken ist zu einem großen Teil sein Verdienst.

Liebe Heimatfreunde!

Nun möchte ich noch einige Veröffentlichungen aus der Feder von Willi Dittgen ansprechen, die außerhalb der Buchreihe unseres Vereins und sonstiger Periodika erschienen sind. Es handelt sich nur um die, die mir für die Heimatkunde am Wichtigsten erschienen:

Bereits 1948, also im Jahr der Währungsreform, erschien auf braunem, brüchigen Nachkriegspapier ein 60-seitiger „Streifzug durch die Geschichte Dinslakens“. Anlass war das damals 675-jährige Stadtjubiläum, das außer durch diese Schrift in jener miserablen Zeit, als Dinslaken noch in Trümmern lag, als Fest gar nicht bewusst wurde. Das schmale Buch war Willis Premiere als Autor und ist umso höher zu bewerten, als bis dahin noch nie eine Dinslakener Stadtgeschichte geschrieben worden war.

Im Jahr 1959 feierte der Kreis Dinslaken sein 50-jähriges Bestehen. Aus diesem Anlass erschien aus Willis Feder die Geschichte des Kreises mit dem Titel „Bewegte Zeit“. Er schildert den Kreis in einer Phase starker wirtschaftlicher Expansion und optimistischer Gesamtstimmung, ohne dass man ahnen konnte, dass die Geschichte des Kreises in weniger als 20 Jahren vorbei sein würde.

Mit seinem 1965 erschienenen Band „Führer zur Kunst am Niederrhein“ ging Willi weit über Stadt und Land Dinslaken hinaus. In mühsamer Arbeit nach einer unübersehbaren Zahl von Ortsterminen hatte er einen systematischen Kunstführer erstellt für den gesamten Bereich der damaligen Kreise Dinslaken, Wesel, Kleve, Geldern, Moers und der Stadt Krefeld. Die klassischen Kunstführer wie „Reclam“ und „Dehio“ waren damit für den Niederrhein praktisch überflüssig geworden.

Liebe Heimatfreunde!

Ich möchte jetzt zurückkommen auf das zu Anfang meines Vortrages erwähnte Dittgen-Buch „Jeffersons Rheintour“, das in der „Zeit“ erwähnt wurde. Die Vorgeschichte hierzu ist kurz wie folgt:

Thomas Jefferson, von 1801 – 1809 der 3. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika und der eigentliche intellektuelle Kopf dieses jungen Staates, war von 1785 – 1789 dessen Botschafter in Paris. Von dort aus machte er 1788 eine Reise nach Amsterdam, um bei den dortigen reichen Bankiers für die USA Kredite zu beschaffen. Für den Rückweg nach Paris nahm er sich Zeit. Er wollte den Rhein kennenlernen und steuerte zunächst Kleve an und besuchte dann den Rhein hinauf, was ihm interessant erschien. Nach Dinslaken ist er dabei nicht gekommen. Duisburg schildert er als eine Stadt, in der keiner eine Fremdsprache verstand. Über diese Rheinreise verfasste Jefferson später einen ausführlichen Reisebericht mit hochinteressanten Schilderungen vom damaligen Niederrhein.

Auf diesen Bericht, der in der Washingtoner Nationalbibliothek verstaubt lagerte, stieß Willi Dittgen 1989 durch verschiedene Zufälle und erkannte dessen Bedeutung für den Niederrhein. Er übersetzte, interpretierte und kommentierte den Jefferson-Text und ließ ihn 1991, als er 79 Jahre alt war, im Mercator-Verlag erscheinen. Dies war damals eine kleine Sensation.

Willi wurde das Schreiben nie leid. Im Jahrbuch des Kreises Wesel erschien noch in seinem Todesjahr 1997 ein Beitrag zu dem damals in Hünxe brisanten Thema „Hüchtenbruck-Epitaph“ und 1998 posthum „Eine nicht ganz ernste Betrachtung über kommunale Aufgaben“. Er endete bei seinem Schreiben gleichsam mit einem Schmunzeln.

Liebe Heimatfreunde!

Dies fiel mir ein und auf dies stieß ich, als ich mich im Hinblick auf den heutigen Tag mit Willi Dittgen beschäftigte. Ein halbes Jahrhundert hindurch war er Motor und Gedankengeber für unseren Verein. Wir können ihm dafür nicht dankbar genug sein.

Anlass:

Vorstellung des Buches „Straßen in Dinslaken“

Datum:

19.11.2008

Ort:

Rathaus Dinslaken

Autor:

Hans-Hermann Bison

Frau Bürgermeisterin,

meine Damen und Herren!

Das Buch, das heute vorgestellt wird, hat keinen Autor. Die Autorenrolle lag bei einem 10-köpfigen Team, das mich gebeten hat, an dieser Stelle einige Worte an Sie zu richten. Da sich das Team immer als Arbeitsgemeinschaft voll Gleichberechtigter verstand, könnte auch jedes andere Mitglied an meiner Stelle hier stehen.

Das Team wollte immer hinter der Sache zurücktreten. Dies drückt sich auch darin aus, dass seine Mitglieder erst am Ende des Buches, gleichsam im Kleingedruckten, genannt werden. Dennoch werde ich gleich noch einige Bemerkungen zum Team machen.

Das Buch „Straßen in Dinslaken“, meine Damen und Herren, hat eine längere Vorgeschichte. Die Idee wurde geboren am 13. Mai 1998 auf einer Mitgliederversammlung des Land Dinslaken-Vereins in Walsum. Dort hatte Helmut Schmitz, damals Vorsitzender des Voerder Heimatvereins, die zweite Auflage des Voerder Straßenbuches angekündigt. Dies regte Artur Benninghoff zu dem Vorschlag an, auch für Dinslaken über ein Straßenbuch nachzudenken. Es war einer der vielen guten Vorschläge, die von Artur Benninghoff in seinen langen Jahren als Vorsitzender des Land Dinslaken-Vereins ausgingen.

Zunächst richteten sich die Bemühungen darauf, einen Autor für das Straßenbuch zu finden, an ein Team war damals nicht gedacht. Ich fand handschriftliche Aufzeichnungen von Artur Benninghoff mit den Namen all derer, denen er die Autorenschaft für dieses Buch antrug. Dies führte bis in das Jahr 2001 hinein zu keinem greifbaren Ergebnis. Den Angesprochenen wurde bald deutlich, wie viel Zeitaufwand in dieses Buchprojekt gesteckt werden musste.

In dieser Situation entstand die Idee von einem Autoren-Team. Über Namen in Betracht kommender Damen und Herren wurde nachgedacht, und dieses Nachdenken führte zum Erfolg. Am 8. Oktober 2002, also vor sechs Jahren, fand die erste Teamsitzung im Stadtarchiv statt.

Meine Damen und Herren des Teams, wir waren also die Ersatzlösung, die 2. Wahl. Hieraus ist dann aber ein Glücksfall geworden. Die Teamarbeit hatte auch einen Wert an sich. Es wird nicht leicht sein, ein solches Kompetenzbündel zu rein ehrenamtlicher, zeitaufwendiger Arbeit wieder zusammen zu kriegen.

Zunächst ging es im Team darum, das Stadtgebiet von Dinslaken in Bearbeitungsbezirke aufzuteilen und für jeden Bezirk den richtigen Bearbeiter / Bearbeiterin zu finden. Im Team hat es in den ersten Jahren noch manche Veränderung gegeben, bis es sich stabilisiert hatte und dann bis heute durchhielt.

Dieses Team mochte ich Ihnen nun vorstellen, zunächst die 7 Texteschreiber, und zwar in der Reihenfolge des Alphabets:

  1. Sepp Aschenbach, Pfarrer i. R.: Herr Aschenbach bearbeitete mit Eppinghoven und Teilen der Feldmark seinen früheren Pfarrbezirk und war schon deshalb eine Idealbesetzung. Seine Begabung für heimatkundliches Schrifttum hat er bereits erbracht durch die Veröffentlichung der Erinnerungen von Johannes Vahnenbruck über Eppinghoven im Jahre 2004 und sein viel beachtetes Buch über den jüdischen Friedhof aus dem Jahre 2006.
  1. Im Alphabet folge ich schon. Ich bearbeitete den östlichen Teil der Innenstadt mit der Friedrich-Ebert- und der Neustraße sowie dem größten Teil des Averbruches. Mir kam zugute, dass ich noch Erinnerungen an Dinslaken aus der Zeit vor 1945 habe und viel „mündliche Überlieferung“, bis ins 19. Jahrhundert hineinreichend.
  1. Hansjürgen Fernkorn ist das dienstjüngste Mitglied im schreibenden Team. Frau Marzin konnte ihn Anfang dieses Jahres gewinnen, gleichsam in der Schlussphase der Arbeit stieß er zu uns. Er betreute keinen Bezirk, sondern erarbeitete den sogenannten „Vorspann“, eine zusammengefasste Stadtgeschichte unter dem besonderen Aspekt Straßen. Er war aus dem Stand in der Materie drin, hatte er doch viele Jahre am Voerder Gymnasium Geschichte unterrichtet.
  1. Inge Litschke: Es verwundert wohl keinen, dass Frau Litschke Lohberg bearbeitet hat, wobei Lohberg weit gefasst ist. Eine sachkundigere und bessere Bearbeitung dieses Bezirkes hätte man sich nicht vorstellen können. Kennen wir doch praktisch alle ihr inzwischen in dritter Auflage erschienenes Lohberg-Buch, das für das ganze Ruhrgebiet vorbildhaft wurde im Hinblick auf die Thematik Bergarbeitersiedlungen. Hinzu kommen aus ihrer Feder - beginnend 1953 - viele weitere heimatgeschichtliche Beiträge.
  1. Klaus-Dieter Schneider, den meisten von ihnen als langjähriger Leiter der hiesigen Volkshochschule bekannt, stieß schon recht früh zum Team, zunächst nicht, um einen Bezirk zu bearbeiten. Er erlebte dann voll mit, wie schwierig es war, für den Stadtteil Hiesfeld eine passende Besetzung zu finden. Im September 2006 erklärte er sich bereit, Hiesfeld zu bearbeiten. Dies war für uns wie ein Befreiungsschlag. Jetzt erst war das schreibende Team komplett. Klaus-Dieter Schneider war sofort mitten in der Thematik, wobei ihm der Erfahrungsschatz aus seiner Arbeit am Voerder Straßenbuch zugute kam.
  1. Ronny Schneider war das einzige schreibende Teammitglied, das die Arbeit am Straßenbuch neben seiner vollen Berufstätigkeit leistete. Als Pfarrer für die Altstadt und Teile des Averbruches war er für seinen Bearbeitungsbezirk, der sich mit seinem Pfarrbezirk weitgehend deckte, geradezu prädestiniert. Er bearbeitete damit vor allem den seit 1273 entstandenen Kern Dinslakens, aus dem die heutige Stadt erwuchs.
  1. Renate Seelisch-Schmitz gehörte von Anfang an zum Team, zur Mitarbeit bewogen von Frau Litschke. Sie bearbeitete den Bezirk zwischen der Bahnlinie Oberhausen-Wesel und Lohberg, das von uns sogenannte „Mädchenpensionat“, also den Stadtteil, in dem die Straßen in der Regel nach weiblichen Vornamen benannt sind. Nicht zu jeder dieser Straßen konnten tiefe neue Erkenntnisse gesammelt werden. Aber die gelernte Germanistin, die Jahrzehnte am Ernst-Barlach- und Theodor-Heuss-Gymnasium unterrichtete, machte auch aus diesen Straßen etwas.

Mit den 7 genannten „Textbearbeitern/-innen“ alleine war das Buch aber noch nicht zu machen. Drei Mitstreiter sind unbedingt noch zu nennen, zunächst, weiterhin nach Alphabet, Artur Benninghoff. Er hat das Buchprojekt vor einem Jahrzehnt angestoßen, es durch alle Phasen begleitet und auch an vielen Teamsitzungen teilgenommen. Er hielt unter Kontrolle, dass es finanzierbar blieb. Auch für die heute beginnende Vermarktung hat er sich schon engagiert.

Dann nenne ich Frank Langner. Mitarbeiter des Vermessungsamtes der Stadt. Herr Langner war in den letzten drei Jahren festes Teammitglied. Er erschloss uns die für das Buch erforderlichen Unterlagen der Stadt, vor allem auch alte Stadtpläne. Ständig erschienen in den letzten Jahren schreibende Teammitglieder in seinem Büro mit Auskunftsbegehren. Für den Fortgang der Arbeiten am Buch wurde er unverzichtbar. Vor allem um die rechtzeitige Erstellung des zum Buch gehörenden Stadtplans nach aktuellstem Stand hat er sich zusammen mit seinem Dienstvorgesetzten, dem Leiter des Vermessungsamtes, Herrn Jürgen Hinzke, überaus verdient gemacht.

Dann ist abschließend noch Gisela Marzin herauszuheben. In dem von ihr geleiteten Stadtarchiv hat das Team von Anfang an getagt und konnte sich dort von ihr und ihrer Mitarbeiterin Frau Attardo freundlich aufgenommen fühlen, obgleich wir dem Stadtarchiv ja nur Arbeit machten und ständig neue Wünsche nach Archivunterlagen hatten. Der von großer Sachkunde geprägte Rat von Frau Marzin hat uns auch über schwierige Phasen des Projekts hinweggeholfen.

Soweit die Vorstellung des insgesamt 10-köpfigen Straßenteams, der ich noch folgendes anschließen möchte:

Nach längerer Zeit hat sich unser Verein bei einer Buchpublikation erstmals wieder eines Verlages bedient, und zwar des Peter Pomp-Verlages in Bottrop. Als die Herren Aschenbach und Benninghoff vor gut einem Jahr von einem Erkundungsbesuch von dort zurückkamen, hatten sie den Eindruck gewonnen, wir wären dort gut aufgehoben. Dieser Eindruck hat sich bis heute voll bestätigt. Deshalb freut es auch das Team, dass der Verlagsgeschäftsführer, Herr Amft, heute bei uns ist.

Wie hat das Team nun gearbeitet? Ich habe nicht gezählt, wie viel Teamsitzungen der Ersten vom Oktober 2002 noch gefolgt sind. Es waren sicherlich mehr als 30. Die Sitzungen des Teams waren für mich nie langweilig. In gewissem Sinne waren sie für uns alle so etwas wie eine Weiterbildung. Ich jedenfalls, auch als geborener Dinslakener, habe viel Neues dabei gelernt. Eine vielschichtige Thematik zusammen mit interessanten Köpfen.

Nachdem das Stadtgebiet in Bearbeitungsbezirke eingeteilt und diese je einem Bearbeiter/-in zugeordnet waren, ging es zunächst darum, für die jeweils selbstständige Bearbeitung eine gemeinsame Philosophie zu entwickeln. Zur Philosophie gehörte dann, dass wir zum Beispiel zur Goethestraße keine Goethebiografie bringen wollten, die in jedem Lexikon oder im Internet nachzulesen ist. Aber „Lokalgrößen“ wie etwa Friedrich Althoff, Julius Kalle oder Heinrich Nottebaum, die wollten wir herausheben. Zur Buchenstraße wollten wir nichts zur Biologie der Buche und über ihre verschiedenen Arten sagen, wohl aber erwähnen, dass unsere Buchstraße nicht von Buchen, sondern von Kastanien geprägt wird. Es ging uns eigentlich immer um das spezifisch auf Dinslaken Bezogene.

Bei allen Bemühungen um eine gemeinsame Philosophie, von Bearbeiter zu Bearbeiter sind Unterschiede geblieben. Handelte es sich doch um ein Gremium individuell gewachsener Persönlichkeiten, deren Durchschnittsalter deutlich über der Pensionierungsgrenze liegt. So werden Sie je nach Teammitglied auch unterschiedliche Schwerpunkte entdecken. Der eine betont mehr die Geschichte von Höfen und Familien, nach denen Straßen benannt sind, der andere geht mehr auf die an der Straße vorhandene Architektur ein oder auf das Entstehen einer Straße im Rahmen der allgemeinen Stadtplanung. Sie werden noch weitere Schwerpunkte entdecken, von denen wir insgesamt meinen, dass sie die Lebendigkeit des Buches erhöhen. Es sollte ja kein Lexikon werden, sondern auch etwas den Charakter von Lesebuch haben, Lesebuch für Einheimische, Hinzuziehende und auch Besucher.

Die Arbeit am Straßenbuch war auch eine Arbeit an der Geschichte der Stadt, Geschichte unter dem Aspekt Straßen der Leser erfährt, wann und warum eine Straße entstand, was sich an ihr abgespielt hat und was sich hinter dem Straßennamen verbirgt.

Trotz aller Recherchen in Büros und Archiven, das Staatsarchiv in Düsseldorf eingeschlossen, alle Fragen konnten wir nicht eindeutig klären und es blieben Streitfragen im Team: War Heinrich Douvermann, der berühmte Bildschnitzer aus der Zeit um 1500, wirklich ein Dinslakener, woher leitet sich die Bezeichnung Lohberg ab, ist bei der Kleiststraße an den Dichter oder den General zu denken, wann kamen die Drei Kreuze nach Dinslaken? Dies sind Beispiele für Fragen an denen etwas offen blieb, auch wegen mangelnder oder unzuverlässiger Quellen. Zu offen gebliebenen Fällen nehmen wir gerne Anregungen für die 2. Auflage entgegen.

Das Thema Straßen brachte uns auch etwas in Kontakt mit der Politik. Auch für Dinslaken gilt, dass sich zahlreiche Straßennamen änderten, wenn sich das politische System änderte. Das Paradebeispiel hierfür ist in Dinslaken die jetzige Friedrich-Ebert-Straße. Als sie 1912 fertig wurde, bekam sie den Namen Kaiserstraße. Als es 1918 bei uns keinen Kaiser mehr gab, wurde sie schlicht Hauptstraße genannt. Ab 1933 hieß sie Adolf-Hitler-Straße. Als es diesen auch nicht mehr gab, hieß sie ab 1945 zunächst wieder Hauptstraße, um 1958 den jetzigen Namen zu erhalten. Geradezu grotesk war, dass in der NS-Zeit die Bahnstraße, eine der 13 Dinslakener Ur-Straßen, die 1893 erstmals offiziell benannt wurden, nach dem Geburtsort Hitlers Braunaustraße hieß.

Die Behandlung der heute in 482 Dinslakener Straßen bis zum kleinsten Gässchen und zu Waldwegen erfolgte in unserem Buch in Übereinstimmung mit dem Straßenverzeichnis des Stadtplanes streng alphabetisch, beginnend mit dem Adelenweg in der Feldmark und endend mit der Straße Zur Maaskat in Lohberg. Wir hatten vorher geprüft, ob der Aufbau des Buches nicht auch nach Stadtteilen erfolgen könne. Dies schied schon deshalb aus, da die Grenzen der Dinslakener Stadtteile nicht eindeutig festliegen. Auch sind Straßen ja oft stadtteilübergreifend und verbinden Stadtteile. Welchem Stadtteil hätte man etwa die Hünxer Straße zuordnen sollen?

Dennoch haben wir auch etwas dem Stadtteilgesichtspunkt entsprochen. So finden Sie unter der Averbruchstraße längere Ausführungen über das Averbruch und seine Entwicklung im Allgemeinen. Noch ausführlicher wird unter der Lohbergstraße der Stadtteil Lohberg als Ganzes behandelt. Unter dem Adelenweg wird das „Mädchenpensionat“ - zitiert nach Wilhelm Lantermann - behandelt, also die Anhäufung von Straßen mit weiblichen Vornamen, von denen es im Bereich Bruch / Feldmark 69 gibt.

Zu unserem Buch gehören, ebenso wie der eigens dafür entwickelte Stadtplan, Bilder. Etwa 200 sind in den Band aufgenommen worden. Viele altbekannte, aber auch frisch ausgegrabene und eigens hierfür gemachte ganz aktuelle Fotos. Wichtigste Bilderquelle war für uns das Stadtarchiv, besonders wichtig war aber auch die Postkartensammlung der Stadtwerke, die frühere Sammlung Stapelkamp. Die Bilder im laufenden Text sind schwarzweiß, Buntbilder hätten den Kostenrahmen gesprengt. Dennoch finden sie im Buch einen 16er Block mit ganzseitigen Buntbildern, deren Inhalte nur in dieser Form sinnvoll darstellbar waren.

Meine Damen und Herren, ein letzter Gedanke: Das Team ist so vermessen zu meinen, dass unser Straßenbuch in besonders guter Weise geeignet ist, alte und neue Bürger, aber auch Gäste, näher an Dinslaken heranzuführen und mit dieser Stadt vertraut zu machen. Auf diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob es nicht sehr passend sein könnte, Neubürger seitens der Stadt und neue Mieter der Wohnbau mit diesem Buch auszustatten.

Ich danke Ihnen.

Anlass:

Ausstellungseröffnung „Moneta Dinslacensis“ und Buchvorstellung „Die mittelalterlichen Münzen der Herrschaft Dinslaken“

Datum:

25.11.1996

Ort:

Sparkasse Dinslaken

Autor:

Ralf Althoff

Sehr geehrte Damen, sehr geehrte Herren,

auch ich möchte mich den Begrüßungen anschließen und Sie herzlich willkommen heißen.

Es ist für mich eine große Ehre, Ihnen hier heute Abend mein Buch über die mittelalterliche Herrschaft Dinslaken und spezieller über die mittel-alterlichen Münzen aus dieser Herrschaft vorstellen zu dürfen. Ich freue mich, dass der Einladung der Sparkasse so viele Interessierte gefolgt sind, denn es macht immer mehr Spaß, vor einer großen Versammlung zu sprechen. Für dieses Interesse möchte ich mich schon vorab herzlich bedanken.

Gestatten Sie mir bitte vorab noch einige Dankesworte. An erster Stelle möchte ich mich bei meinen beiden Professoren, Herrn Professor Dr. Johanek und Herrn Professor Dr. Berghaus von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster bedanken und bei Herrn Dr. Ilisch vom Landesmuseum für Kunst- und Kulturgeschichte in Münster sowie bei Herrn Dr. Pohl vom Kreisarchiv in Wesel. Sie alle haben meine Magister-arbeit fachlich betreut. Darüber hinaus gilt mein besonderer Dank meinen Eltern und meiner Lebensgefährtin, die mit langer finanzieller und persönlicher Unterstützung diese Arbeit erst ermöglicht haben.

Vielfach habe ich aber auch von hier ungenannten Münzhändlern und Sammlern Hinweise, Unterstützung und Informationen erhalten, ihnen allen sei hiermit auch ein herzlicher Dank ausgesprochen.

Die nun vorliegende Veröffentlichung, die eine modifizierte Variante meiner Magisterarbeit ist, war nur durch die Initiative des Vereins für Heimatpflege "Land Dinslaken" mit seinem Vorsitzendem, Herrn Sparkassendirektor Artur Benninghoff, und dem Initiator der Buchreihe "Dinslakener Beiträge", Herrn Willi Dittgen, möglich. Wesentlichen Anteil an der Verwirklichung dieses Geschichtsbuches hat die Sparkassenstiftung zur Förderung des rheinischen Kulturgutes, die das Projekt finanziell maßgeblich unterstützte.

Neben vielen hier ungenannten Helfern möchte ich zuletzt aber noch die sehr gute Zusammenarbeit mit Herrn Koopmann, dem Leiter des Mercatorverlages in Duisburg, lobend erwähnen.

Nach dieser langen Vorrede, die ich aber gerne hier vorgetragen habe, möchte ich Ihnen, liebe Zuhörer, nun einige Einblicke in das Leben Dietrichs von der Mark und seinen Münzen der Herrschaft Dinslaken geben. Das Buch enthält, anders als der Titel es vermuten lässt, einen etwa die Hälfte des Umfanges ausmachenden landesgeschichtlichen Teil, der unter anderem eine aus vielen hundert Einzelinformationen zu-sammengetragene Biographie des Dietrich von der Mark, von den Kindheitstagen bis zum Tode enthält.

Wie gelangte nun die kleine Herrschaft Dinslaken in den Besitz des Dietrich von der Mark, der als jüngster Bruder des mächtigen Grafen Engelbert III. von der Mark, schon seit früher Kindheit eine geistliche Karriere begonnen hatte? Hier muss man nun erst einmal in die Zeit vor seiner Herrschafts-übernahme in Dinslaken in die Landesgeschichte blicken.

Schon im 12. Jahrhundert hatten sich die Klever Grafen im Zuge ihrer Expansionsbestrebungen für die rechtsrheinische Herrschaft Dinslaken interessiert, doch sollte es noch bis weit in das 13. Jahrhundert hinein dauern, bis sie diese Herrschaft im Zuge einer geschickten Heiratspolitik vereinnahmen konnten. Seit dieser Zeit wurde die Herrschaft Dinslaken von den Klever Grafen immer wieder als Morgengabe oder Erbabfindung auf Zeit für Familienmitglieder genutzt.

Seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts lassen sich dann zwischen den Klever und den märkischen Grafen Bestrebungen für eine familiäre Bindung beider Geschlechter nachweisen, die jedoch erst durch die Heirat Adolfs II. von der Mark mit Margarethe von Kleve 1332 dauerhaft besiegelt werden konnte. Schon 1347 starb Dietrich VIII. von Kleve, ohne Erben zu hinterlassen, so dass die märkischen Brüder Engelbert, Adolf und Dietrich, die aus der Ehe Adolfs II. und Margarethe hervorgegangen waren und seitens ihrer Mutter Erbansprüche auf die Grafschaft Kleve hatten, diese geltend machen wollten. Doch konnten sie sich noch nicht gegen Johann von Kleve, einen Bruder Dietrichs VIII., durchsetzen.

So mussten sie noch einige Jahre warten, bis dieser 1368 ebenfalls erben-los starb. In diesem Jahr konnten die märkischen Brüder endlich die Klever Grafschaft in Besitz nehmen. Doch schon viele Jahre vorher hatten sie sich über die Teilung aller familiär ererbten Güter schriftlich geeinigt. Engelbert III. behielt die Grafschaft Mark und erhielt zusätzlich alle rechts-rheinischen Besitzungen der Klever Grafschaft, während sein Bruder Adolf III. die linksrheinische Grafschaft Kleve erhielt. Dabei hatte aber Engelbert III. den jüngeren Bruder Dietrich abzufinden. Diese Abfindung bestand schließlich aus der Herrschaft Dinslaken, die später noch um einige Weseler Besitzungen erweitert wurde.

Dietrich, der inzwischen Dompropst in Köln und Xanten war und mehrmals die Verweserschaft des Stiftes Osnabrück übernommen hatte, legte offen-sichtlich seine geistlichen Ämter nieder und trat 1372 als Landesherr von Dinslaken seine Herrschaft an, wobei aber während der gesamten Herrschaftszeit von 1372-1404 eine gewisse Abhängigkeit von Engelbert III. von der Mark bestehen blieb.

Er schaltete und waltete in seiner Herrschaft äußerst aktiv, so dass sein Name Eingang in erstaunlich viele Urkunden gefunden hat. Auf jeden Fall kommt ihm ein erheblich größerer Stellenwert in der mittelalterlichen Landesgeschichte zu, als gemeinhin bisher angenommen worden ist.

Aus dem umfangreichen Quellenmaterial, das ich ausgewertet habe, ist besonders die Weseler Stadtrechnung hervorzuheben, aus der sehr viele Informationen gewonnen werden konnten. Aus den vielen Daten und Fakten der zur Verfügung stehenden Quellen konnte ich eine Biographie erstellen, die Ausdehnung der Herrschaft über die Lehnsvergabe und Gerichtsorte ermitteln sowie landes-geschichtlich-familiäre Verbindungen erörtern. Dieser ausführliche landesgeschichtliche Teil der Arbeit soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Kern dieser Forschungs-arbeit von den Untersuchungen zur Münzprägung in Dinslaken gebildet wird.

Diese Auswertungen zur Münzprägung füllen etwa die zweite Hälfte des Buches und bestehen aus Quellen- und Literaturauswertungen, Stempel-, Metall- und Gewichtsanalysen, einem Siegelbild - Münzbildvergleich und einer Aufnahme und Auswertung aller Münzfunde, die Dinslakener Geld enthielten.

Diese Untersuchungen haben im Ergebnis zu einer relativen Chronologie, zu einer Fundverbreitungskarte sowie einem umfangreichen Katalogteil geführt. Besonders der Katalogteil mit den Abbildungstafeln ist für die Sammler als Nachschlagewerk von großer Bedeutung.

Ich möchte Sie nun nicht mit Ausführungen über viele Details stundenlang quälen, sondern Ihnen jetzt die Grundtypen der Prägungen, die während der Herrschaft des Dietrich von der Mark (1372 - 1404) sowohl in Dinslaken als auch in der zweiten Prägestätte Wesel entstanden sind, im Bild vorstellen. Dabei möchte ich darauf hinweisen, dass wir Numismatiker in den Münzen "in Metall geschlagene Urkunden in Wort und Bild" sehen, die auch tatsächlich in Wort und Bild * gelesen werden können.

=> Dia 1: Pfennig, Münzstätte Dinslaken, Dynastentyp mit Schwert, Zweig und Röschen. Besonderer Hinweis auf den kleinen Stern im Schach!   => Zeichen seiner jüngeren Abkunft.

=> Dia 2: Pfennig, Münzstätte Wesel, Dynastentyp wie vor

=> Dia 3: Pfennig Adolfs II. von der Mark aus der Münzstätte Iserlohn, ein Vorbildpfennig für die Dinslakener Stücke

Der Dynastentyp ist in Dinslaken und Wesel mindestens von 1372 bis 1375 geprägt worden, möglicherweise auch noch einige Jahre länger!

=> Dia 4: Groschen auf-Klever Schlag, Münzstätte Dinslaken, hier das Stück aus Berlin.

(Auf die Seltenheit. der Groschenwerte hinweisen, nur in Berlin und St. Petersburg vorhanden! Die Groschenwerte waren speziell für den linksrheinischen Geldumlauf gedacht.)

=> Dia 5: Achtelgroschen auf Klever Schlag, Münzstätte Dinslaken, ein Unikum aus den Domgrabungen in Xanten.

=> Dia 6: Pfennig, Münzstätte Dinslaken, mit fünfstrahligem Stern.

Der Stern-Typ hat den Dynastentyp abgelöst und ist ca. zwischen 1380 und 1390 ausgeprägt worden. Die in der Legende enthaltene Be-zeichnung "OPPIDI DINSLAK" deutet auf eine städtische Prägung in Dinslaken hin, darüber jedoch gleich noch etwas mehr.

=> Dia 7: Pfennig, Münzstätte Dinslaken, mit dem Bild einer dreitürmigen Torburg.

=> Dia 8: Pfennig, Münzstätte Wesel, wie vor.

Der Prägebeginn der Torburgpfennige lässt sich anhand der Fund-auswertung und einer besonderen Textstelle in der Weseler Stadt-rechnung recht genau mit 1393 angeben, denn dort steht unter den Ausgaben: "gedaen den wardeynen 28 Markessehen 3 ß ende 4 d aen anderen gelde dye se liten barnen, do men monten

zolde" => Übersetzung/Erklärungen!

Wir haben vorhin schon gehört, dass uns ab ca. 1380 auf den Münzen die Bezeichnung "OPPIDI DINSLAK" begegnet und dieses darauf hindeutet, dass nicht mehr der Landesherr Dietrich hat prägen lassen, sondern die Stadt Dinslaken. Hier liegt offensichtlich eine schriftlich nicht zu be-weisende Verpfändung der landesherrlichen Münzstätte an die Stadt Dinslaken und etwas später auch an die Stadt Wesel zugrunde.

Ein weiterer Beweis für diese Vermutung liefert uns ein Vergleich des Schöffensiegels mit einem Sterntyp-Pfennig und ein Vergleich des kleine Dinslakener Stadtsiegels mit einem Torburgtyp-Pfennig.

=> Dia 9: Schöffensiegel/Sternpfennig

=> Dia 10: Kleines Stadtsiegel/Torburgpfennig

Ich glaube, dass es jedem recht deutlich wird, dass hier die Vorbilder für die späten Dinslakener Prägungen von den städtischen Siegeln entlehnt worden sind und damit die Vermutung einer städtischen Prägung erhärtet wird.

Wann die letzten Münzen geprägt worden sind, ist nicht genau zu ermitteln, jedoch hat Dietrich von der Mark von 1372-1404 regiert, bevor er 1404 mit Einverständnis seiner Verwandtschaft in Mark und Kleve die Herrschaft Dinslaken an Kleve zurückgegeben hat. Es ist eines, der wenigen Beispiele altersbedingter Aufgabe der Regierungsgeschäfte im Mittelalter. Dietrich starb am 25. Mai 1406 und wurde in der Dominikaner-kirche in Wesel beigesetzt.

Wohl aufgrund seiner zuerst geistlichen Laufbahn und später durch eine nicht zu beweisende Verpflichtung, dass er keine Erben hinterlassen durfte, war er offiziell nie verheiratet, dennoch lassen sich in den Quellen mindestens 6 Bastardnachkommen nachweisen, um deren Wohlergehen er sich durchaus bemüht hat.

*Die im Vortrag erwähnten bildlichen Dia-Darstellungen stehen nicht zur Verfügung!