Dirigent und Virtuose: Friedrich Althoff im preußischen Kultusministerium

Anlass:

100. Todestag von Friedrich Althoff

Datum:

30.10.2008

Ort:

Rathaus Dinslaken

Autor:

Prof. Dr. Hubert Laitko

Sehr geehrte Frau Bürgermeisterin Weiss!
Sehr geehrte Festversammlung!

So wenig aufregend Friedrich Althoffs äußerer Lebenszuschnitt auch immer war — die Drama­tik der Ideen, Entwürfe, Entscheidungen und Handlungen, die dieses Leben barg, war so ver­wickelt, vielgestaltig und folgenreich, dass es auch die Kunst des kenntnisreichsten Biogra­phen überfordert, es in den engen Rahmen einer dichten Beschreibung zu bannen. Sie alle werden empfunden haben, dass Bernhard vom Brocke in der imponierenden Bilanz, die er hier vorgetragen hat, weitaus mehr weglassen musste, als er sagen konnte. Dennoch hat sein knappes Fazit ausgereicht, um eindrucksvoll die Kontur einer außergewöhnlichen Erfolgsge­schichte zu zeichnen. wie sie die Annalen der deutschen Vergangenheit selten bieten. Wenn vieles von dem, was er vorgedacht und in die Wege geleitet hatte, in der Katastrophe des Ers­ten Weltkriegs unterging, so ist Althoff selbst dafür am allerwenigsten in die Verantwortung zu nehmen. Er hat getan, was in seinen Kräften stand, um die ausgedehnte Friedensperiode des Deutschen Reiches, die den Hintergrund seines Lebenswerkes bildete, auf lange Sicht fortzuschreiben; es war sein Schicksal, dies in einer Gesellschaft versucht zu haben, in der die Kräfte, die zum Krieg drängten, letztendlich stärker waren als die maßvollen Stimmen der Vernunft.

Wie war es nun möglich, dass Althoff sein Amt — oder besser: die Folge seiner Ämter mit einem sich immer mehr erweiternden Verantwortungsbereich — im preußischen Kultusminis­terium mit einem so exzeptionellen Erfolg führen konnte, der uns ein Jahrhundert nach sei­nem Tod bewundernd zurückblicken lässt und es auch einem professionellen Historiker schwer macht, der Pflicht zu wissenschaftlicher Nüchternheit zu gehorchen und zu seinem Wirken und dessen Wirkungen den gebührenden kritischen Abstand zu gewinnen? Jedem, der sich etwas näher mit Althoff beschäftigt, drängt sich diese vertrackte Wie-Frage auf. Beson­ders virulent wurde sie im letzten Drittel des 20. Jhs., manchmal offen, häufiger implizit ge­stellt und bisweilen mit der verwegenen Hoffnung verbunden, man könnte womöglich bei Althoff in die Lehre gehen und seinem Schaffen probate Rezepte ablesen, die sich in unsere Zeit übertragen ließen, um damit die erheblichen öffentlichen Mittel, die heute für die Wis­senschaft aufgewandt werden, in mehr und bedeutendere wissenschaftliche Erfolge umzu­münzen.

Wenn üppige Budgets bereitstehen und mit vollen Händen verteilt werden können, fällt es auch einem durchschnittlichen Ministerial-beamten leicht, auf seinem Feld eindrucksvolle Er­folge zu erzielen und in angenehmer Erinnerung zu bleiben. Von einer so komfortablen Situa­tion konnte Althoff nur träumen. Er amtierte unter Bedingungen chronischer finanzieller An­spannung, und was ihm an disponiblen Mitteln fehlte, musste er durch überlegenes Können ersetzen. Darauf vor allem beruht die ungebrochene Faszination, die bis heute von ihm aus­geht. Während des ganzen Vierteljahrhunderts seiner ministeriellen Tätigkeit konnte er nie aus dem Vollen schöpfen, ungeachtet dessen, dass seine Erfahrung, seine Routine, seine Autorität und sein Einfluss mit den Jahren immer größer wurden. Auch wenn die Wissenschafts­aufwendungen Preußens während seiner Amtszeit respektabel zunahmen — die Ansprüche der expandierenden Wissenschaft an die Finanzierungs-bereitschaft des Staates stiegen noch weit­aus schneller, und selbst das kleine Baden wandte pro Kopf seiner Bevölkerung doppelt so viel für die Wissenschaft auf wie das mächtige Preußen. Althoffs administratives und politi­sches Genie entfaltete sich in der Beschränkung, von dort her gewann es Glanz und Größe.

Dieser erstaunliche Beamte hat kein Manual hinterlassen, keine Instruktionsfibel, in der er das Repertoire seiner Methoden geordnet dargestellt hätte, mit ausführlichen Anleitungen, wann wie zu agieren und worauf wie zu reagieren sei. Nichtsdestoweniger haben schon die Zeitge­nossen gespürt, dass seine Handlungen, die die allerunter-schiedlichsten Bereiche des Wissen­schaftsbetriebes in Preußen betrafen und auf den ersten Blick so heterogen waren wie ihre Gegenstände, irgendwie miteinander zusammenhingen, und dafür das (von Herrn vom Brocke bereits eingeführte) Etikett „System Althoff" erfunden. Doch so mühelos man dieses Etikett auch handhaben kann, wenn es einmal in Gebrauch genommen ist — die historische Wirklich­keit, die damit gekennzeichnet wird, sträubt sich gegen ihre Auflösung in ein einfaches Re­gelwerk.

Ich möchte versuchen, mich dem schwer Fassbaren in fünf vorsichtigen Schritten zu nähern.

Erster Schritt. Wo stand Althoffs Praxis im Spannungsfeld von Staat und Wissenschaft? Die Antwort erscheint ganz einfach: Althoff war Ministerialbeamter, also gehörte er der staatli­chen Kultusverwaltung an, und zwischen ihm und den Wissenschaftlern, mit denen er zu tun hatte, verlief die Demarkationslinie, die Politik und Wissenschaft voneinander scheidet. Aber so eindeutig sind die Verhältnisse nur, wenn man allein Althoffs formelle Dienststellung be­trachtet. Schaut man genauer hin, was er in dieser Stellung tat, dann verliert sich diese Ein­deutigkeit, und die scheinbar so klare Grenze verschwimmt. Dann wird erkennbar, dass er mindestens so nachdrücklich die Anliegen der Wissenschaft gegenüber dem Staat geltend machte, wie er den Gelehrten als Anwalt des Staatsinteresses gegenübertrat. Er agierte in einer hybriden Rolle, war Verwaltungsbeamter und Wissenschaftler in einem. In seinen prä­genden Straßburger Jahren, die seinem Eintritt in das preußische Kultusministerium voraus­gingen, hatte er diese Rolle geübt und verinnerlicht. Als Verwaltungsfachmann war er an der Ausgestaltung der neuen Reichsuniversität beteiligt, zugleich lehrte er als einer ihrer Profes­soren Rechtswissenschaften, und es ist bekannt, dass er für sich selbst die Entscheidung, ob sein Lebensweg endgültig in die Wissenschaft oder in die Verwaltungspraxis führen sollte, lange offen hielt. Diese Doppelprägung nahm er mit nach Berlin und lebte sie weiter.

Eine unscheinbare, kaum bekannte Episode mag dies deutlich machen. Im Jahre 1903 regte angesichts der im deutschen Weinbau grassierenden Reblausplage der preußische Landwirt­schaftsminister gegenüber dem Kultusministerium an, einen Lehrstuhl für Phytopathologie, die Lehre von den Pflanzenkrankheiten, an der Universität Halle einzurichten, an dem Metho­den zur effektiven Reblausbekämpfung erarbeitet werden sollten. Der Finanzminister stimmte dem Vorhaben zu, meinte aber, dieser Lehrstuhl sollte nur vorübergehend bestehen und spä­ter, wenn brauchbare Mittel gegen die Reblaus zur Verfügung ständen, wieder gestrichen werden. Althoff indes sprach sich in einer Stellungnahme gegenüber dem Landwirtschaftsmi­nisterium dafür aus, „von einem späteren Wegfall der neuerrichteten Professur in Halle Ab­stand zu nehmen". Ein solches Vorgehen wäre auch „mit der Stellung eines Professors an der Universität nicht vereinbar". Damit verwahrte sich Althoff dagegen, die Wissenschaft — zumal die universitäre — als bloße Dienstleisterin für die Erfüllung praktischer Aufgaben zu behan­deln, mögen diese auch noch so dringlich sein. Wenn sich die Wissenschaft eines praktischen Themas annahm, dann musste sie es nach seiner Überzeugung zum Gegenstand grundlagenbezogener Erkenntnisarbeit machen und die geforderten Lösungen für die Praxis aus dieser weiten Perspektive entwickeln. Zugleich sah er, dass eine rein pragmatische, nur fiskalisch orientierte Vorgehensweise die Würde des Hochschullehrers verletzen könnte. Mit vollem Recht urteilt der Biologiehistoriker Ulrich Sucker, dem wir die Untersuchung dieses Falles verdanken, über Althoffs Vorgehen mit den Worten: in würdevoller Weise vertrat er den Standpunkt der Wissen-schaft seitens seines Ministeriums..." Damit ist der Kern der Sache getroffen: Es war der Standpunkt der Wissenschaft selbst, den sich Althoff zu eigen machte und den er mit den Machtmitteln des Kultusministeriums gegenüber dem Finanzministerium verfocht. Beide hier genannten Akzente — die Hervorhebung grundlagenorientierten Erken­nens und die Betonung der Würde des Gelehrten — sind typische Argumentationsfiguren des Wissenschaftlers, nicht des Verwaltungs-beamten.

Die Zeit um die Wende vom 19. zum 20.Jh. gilt als Blütezeit der Moderne, als deren hervor­stechendes Merkmal die Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Teilsysteme — Politik, Wirtschaft, Recht, Wissenschaft usw. — und ihre scharfe Profilierung gegeneinander gesehen wird. Aus dieser Perspektive betrachtet, unterlief Althoffs Verwaltungspraxis die rigide Grenzziehung zwischen Staat und Wissenschaft und war damit seiner Zeit weit voraus. Es erscheint mir nicht unplausibel, den Schlüssel zum Phänomen Althoff gerade hier zu suchen.

Zweiter Schritt. Welche Konsequenzen hatte die hybride Rolle zwischen Staat und Wissen­schaft für Althoffs Charakterbild? Der idealtypische Verwaltungsbeamte ist ein Rädchen im Getriebe, perfekt und geräuschlos im Rahmen vorgegebener Normen funktionierend und ver­lustfrei austauschbar gegen andere Inhaber identischer Qualifikationen — der idealtypische Wissenschaftler hingegen ist eine unikale, einzigartige Persönlichkeit, unwiederholbar und unersetzlich in seinem schöpferischen Vermögen. Beide Typisierungen liegen an der Grenze zur Karikatur, doch sie machen in ihrer rabiaten Zuspitzung auch Wesentliches deutlich. Althoff bewies kraft seiner Identifizierung mit dem Geist der Wissenschaft weit mehr an indi­vidueller Eigenart, als sich ein Verwaltungsbeamter gemeinhin gestatten darf und zu gestatten pflegt. Das äußerte sich in der Originalität seiner Problemsichten und Lösungswege, in seiner Bereitschaft, eingebürgerte Konventionen über den Haufen zu werfen und Gewohnheitsrechte zu brechen. Keineswegs bedeutete es aber, dass er sich je in den Vordergrund gespielt hätte. Die Welt der Stars hatte für ihn keinen Reiz, in seinem unprätentiösen Verhalten entsprach er ganz dem Normativ preußischer Pflichterfüllung und in der Diskretheit seiner Aktionen den Erwartungen, die an einen guten Beamten gestellt werden. Manchmal musste er das seinen ungeduldigen Protegés, denen seine Hilfe nicht schnell genug kam, auf den Kopf zu sagen. So versicherte er einem seiner Schützlinge, dem hochbegabten, aber schwierigen Bakteriologen Emil Behring, in einem Brief zum Jahresende 1894, es sei weiterhin sein entschiedenes Bestreben, diesem "an einer preußischen Universität eine geeignete Stelle zu bereiten. [...] Wenn die Dinge nicht immer einen so raschen und durchsichtigen Verlauf nehmen, wie ich es wünsche, so hängt das mit geschäftlichen Verhältnissen zusammen, für die Sie als Außenste­hender kein volles Verständnis haben können, die wir aber schon überwinden werden".

Althoff war kein Mann der Öffentlichkeit und verzichtete auch weitgehend auf eigene publi­zistische Stellungnahmen zu aktuellen Streitthemen, obwohl es ihm weder an rhetorischem Geschick noch an stilistischer Gewandtheit fehlte. An die Öffentlichkeit trat er nur, wenn er es von Amts wegen tun musste — etwa dann, wenn er sich als Regierungskommissar den Par­lamentariern im preußischen Abgeordnetenhaus zu stellen hatte. Sobald er aber in dieser Ei­genschaft das Wort ergriff, tat er es mit Bravour. Ein Glanzstück war die Durchsetzung des laufenden Jahresetats 1891 für Robert Kochs Instituts für Infektionskrankheiten im Abgeord­netenhaus. Das Schicksal dieses innovativen Instituts, dessen Einrichtung Althoff zu danken war, stand auf der Kippe, denn das von Koch entdeckte Tuberkulin, von dem sich ein Jahr zuvor in beispielloser Euphorie alle einen Blitzsieg über die gefürchtete Tuberkulose verspra­chen, hatte sich als eine Enttäuschung erwiesen, und so war der überzogenen Begeisterung ein nicht minder unvernünftiger Katzenjammer gefolgt. Auch der wortgewaltige Rudolf Virchow war gegen die Bewilligung des Budgets. In dieser prekären Situation bediente Althoff, nach­dem er sachlich die medizinische Bedeutung des Instituts erläutert hatte, mit großem Geschick die patriotische Klaviatur. Es sei, so sagte er, vorzugsweise das Verdienst der deutschen For­schung, die Ursache der Infektionskrankheiten nachgewiesen zu haben, schilderte die ein­schlägigen Anstrengungen anderer Staaten und rief den Abgeordneten zu: „...wir möchten, dass Sie die deutsche medizinische Wissenschaft in den Stand setzen, das zu vollenden, was sie angefangen hat, da zu ernten, wo sie gesät hat". Für den Kampf gegen die Infektions­krankheiten müsse „eine vollständige wissenschaftliche Mobilmachung erfolgen, da darf es in nichts an der Rüstung fehlen". Das war die Tonlage, mit der man im wilhelminischen Deutschland Mehrheiten gewann.

Dritter Schritt. Worauf gründete sich die Originalität und Reichhaltigkeit des Althoff‘schen Methodenrepertoires und die hochgradige Treffsicherheit seines Vorgehens? Diese Frage ist unter allen, die man zum "System Althoff" stellen kann, wohl am sichersten zu beantworten —jedenfalls im Prinzip, wenn auch im Detail noch vieles zu erkunden bleibt. Die intuitive Prä­zision seiner Entscheidungen, etwa in Berufungsfragen auf Gebieten, die ihm als Juristen fachlich fern stehen mussten, hat oft bewunderndes Erstaunen ausgelöst und manchmal dazu verführt, ihm übermenschliche Prädikate wie „Allmacht" oder „Dämonie" zuzuschreiben. Die Althoff-Zeit war eine Epoche präzedenzlosen Aufstiegs der Naturwissenschaften, die zugleich kraftvoll wie nie zuvor in ganz unterschiedliche Bereiche der menschlichen Lebenspraxis hin­einwirkten, von der Medizin über die Produktionstechnik bis zum Verkehrs- und Nachrich­tenwesen. Althoff hat diesem Prozess nicht nur interessiert zugeschaut, sondern hat ihn auch aktiv moderiert — oft, wenn auch nicht immer als zielgenauer Förderer vielversprechender Frontgebiete der Forschung, von denen die Immunologie und Serumtherapie nur eines von zahlreichen Beispielen ist, freilich ein besonders populäres.

Was hat ihn, den Juristen, dazu befähigt, wo er doch zu allen diesen Feldern nicht die gerings­te fachliche Affinität haben konnte? Er war dazu allein deshalb in der Lage, weil er sich über ausgedehnte Netze von Beratern und Vertrauenspersonen die verteilte Kompetenz der diver­sen wissenschaftlichen Fachgemeinschaften in einem Maße zugänglich machte, das in den Wissenschaftsverwaltungen weder vorher noch nachher üblich war. Daraus erwuchs ihm eine aggregierte Informationsbasis, die in wissenschaftspolitischen Entscheidungsfragen jener sei­ner Partner und Kontrahenten überlegen war, oft mit weitem Abstand. Es waren Hunderte von Wissenschaftlern, mit denen er in persönlichem Austausch stand. Die zahlreichen Briefe, die sie ihm schrieben, sind zum großen Teil erhalten geblieben; was sie ihm darüber hinaus im vertraulichen Gespräch sagten, lässt sich freilich nur punktuell rekonstruieren.

Ein Durchschnittsbeamter hätte sich vielleicht vor allem auf den inhaltsarmen und mit viel Vorsicht formulierten amtlichen Schriftverkehr verlassen. Die Aktenstücke, die Althoff auf dem gewöhnlichen Dienstweg erreichten, hätten Althoff jedoch niemals in die Lage versetzt, selektiv, inhaltlich akzentuierend in den Wissenschaftsbetrieb eingreifen zu können. Dazu bedurfte es vieler unverblümter Meinungsäußerungen von Partnern, die kein Blatt vor den Mund nahmen. Partnerschaft war in der Tat das Grundverhältnis, das Althoffs Wechselbezie­hungen mit seinen Beratern bestimmte. Diese Beziehungen entfalteten sich auf einem stabilen Boden: Beide Seiten einte das Bekenntnis zur Monarchie, der Wunsch, dem wilhelminischen Deutschland noch mehr wissenschaftliches Gewicht zu verleihen, und das Interesse, Wissen­schaft über den eigenen unmittelbaren Arbeitsbereich hinaus zu gestalten. Auf diesem Hinter­grund wurden Interessendifferenzen ausgetragen und Richtungen gemeinsamen Handelns gefunden. Wenn Althoff seine Partner in Dienst nahm, so ließ er sich umgekehrt von ihnen in Dienst nehmen.

Dieses gegenseitige Geben und Nehmen könnte man hundertfach belegen. Betrachten wir pars pro toto den Mathematiker Felix Klein, denn Althoff so sehr schätzte, dass er ihm noch am 12. September 1908, etwa einen Monat vor seinem Tod und schwer von seinem Leiden gezeichnet, einen Besuch in Göttingen abstattete_ um sich nach dem Fortgang seiner Arbeiten zu erkundigen. Klein, dem Althoff 1885 den Übergang von Leipzig nach Göttingen ermög­licht hatte, war ein Protagonist der angewandten Mathematik und ein Verfechter der engen Verbindung von Mathematik, Naturwissenschaften und Technik. Sein ehrgeiziges Ziel, Uni­versitäten und Technische Hochschulen zu verschmelzen, war unter den Hochschullehrern jener Zeit nicht konsensfähig, aber Schritte in diese Richtung konnten immerhin unternom­men werden. In Göttingen war Klein für Althoff wertvoll, weil dieser damit seine strategische Absicht, die preußischen Universitäten durch fachliche Schwerpunktbildung zu profilieren, wesentlich voranbringen und den mathematisch-physikalischen Akzent Göttingens stärker ausprägen konnte. Für Klein war die enge Beziehung zu Althoff entscheidend, um gegen den hinhaltenden Widerstand seiner Fakultät die Verbindungen zur Technik und zur Industrie aus­zubauen. In diesem fruchtbaren Ehrgeiz Kleins sah Althoff wiederum einen Weg, privates Kapital für die Wissenschaftsförderung zu akquirieren und damit ihren Spielraum zu erwei­tern. So entstand 1898 die aus Industriellen und Wissenschaftlern bestehende „Göttinger Ver­einigung", deren Vorsitzender der mit Althoff befreundete Chemieindustrielle Henry Theodo­re Böttinger wurde, während Klein dessen Stellvertretung übernahm. Diese Vereinigung, die durchaus als eine Art experimenteller Vorstufe der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft angesehen werden kann, hat in Göttingen die Bildung einer größeren Zahl von Instituten angewandten Profils ermöglicht.

Die Betrachtung solcher Symbiosen führt das Zerrbild ad absurdum, Althoff habe seine Bera­ter zu servilen Zuträgern abgerichtet. Dieses Zerrbild hielt sich indes hartnäckig, auch noch weit über Althoffs Tod hinaus, und steigerte sich bisweilen gar zu übler Nachrede, wie man sie etwa noch in den 1946 erschienenen Memoiren des Berliner Philosophen und Psychologen Max Dessoir findet, der Althoff sogar die Schuld an der Anfälligkeit deutscher Wissenschaft­ler für den Nationalsozialismus in die Schuhe schieben wollte: „...wir verlernten, wie freie Männer zu reden und zu handeln, lebten selbst noch nach Althoffs Tod weiter in der ,Furcht des Herrn' und schwenkten schließlich gehorsam um, als der Nationalsozialismus uns ‚auszu­richten' begann". Indes hätte Althoff charakterlose Liebedienerei am wenigsten brauchen können. Sie lag einfach unter dem Niveau seiner Wissenschaftspolitik. Er benötigte vielmehr souveräne, fordernde und insofern auch unbequeme Partner, die sein Denken in Bewegung hielten, so wie umgekehrt auch er selbst anderen kein bequemer Partner war und sein wollte.

Den Vorwurf, jenen Hunderten von Wissenschaftlern, die zu Althoffs Beraterkreis gehörten, hätten noch größere Kontingente gegen-übergestanden, denen auf den Entwurf und die Praxis der preußischen Wissenschaftspolitik kein vergleichbarer Einfluss eingeräumt war, kann man nicht einfach von der Hand weisen. Das Faktum trifft zu, doch der Vorwurf ist unhistorisch. Wann hätte es zuvor irgendwo eine staatliche Wissenschaftsverwaltung gegeben, an der ein so großer Kreis von Wissenschaftlern mitgestaltend beteiligt war? Insofern wäre ich geneigt, das „System Althoff' einen bedeutenden Fortschritt in der Demokratisierung der Wissenschafts­verwaltung zu nennen — gemessen natürlich an dem, was vorher war, und nicht an einem abstrakten Demokratieideal. Wenn Althoff, wie ihm häufig vorgehalten wurde, ein autokrati­sches Regiment geführt hat, so war es jedenfalls eine aufgeklärte, partizipative Autokratie.

Vierter Schritt. Wie vermochte es Althoff, seine Wirksamkeit zu multiplizieren oder zu po­tenzieren? Seine eigenen, unmittelbaren Handlungsmöglichkeiten waren groß, aber dennoch sehr viel geringer als das, was er tatsächlich bewirkt hat. Es waren die Möglichkeiten eines begabten und erfahrenen Fachmanns, der sich strenger Selbstdisziplin oder gar Selbstausbeu­tung unterwarf, für den die Arbeitstage kein Ende kannten und für den selbst jeder Sanatori­umstag ein Arbeitstag war. Mehr erreichen konnte er nur, indem er die Kräfte anderer für sei­ne Zwecke in Bewegung setzte. Diese Aussage will freilich sorgfältig interpretiert werden. Tun wir dies an einem Beispiel.

Hermann Diels, der berühmte Gräzist und zu jener Zeit Rektor der Berliner Friedrich-­Wilhelms-Universität, schrieb am 16. Februar 1906 einen Brief an Althoff, in dem die folgen­de bemerkenswerte Passage steht: "Natürlich bleibt die leitende Hand im Verborgenen. Ich drücke sie aber mit Dankbarkeit...- Die „leitende Hand" war natürlich die Hand Friedrich Althoffs, und die Angelegenheit, um die es ging, war eine Immediateingabe an Wilhelm II., unterzeichnet von Diels und weiteren prominenten Professoren, in der die Berliner Universität ihre Vorstellungen über ihren künftigen Raumbedarf darlegte. Althoff hatte sie dazu veran­lasst. Den Entwurf hatte er sich im Januar von Diels zusenden lassen, und Althoff wiederum übermittelte über seinen Mitarbeiter Friedrich Schmidt-Ott Abänderungsvorschläge an Diels. Der zitierte Brief aus der Feder von Diels ist dessen Antwort auf die Vorschläge. Obwohl Althoff den Vorstoß wesentlich arrangiert hatte, tauchte sein Name in der Eingabe nicht auf. Es erschien offenkundig taktisch klüger, sie als eine rein universitäre Meinungsäußerung an den Monarchen zu adressieren.

Agierten hier Diels und die übrigen Professoren womöglich als bloße Werkzeuge Althoffs? Die Interessenkonstellation ist ganz klar und übersichtlich. Althoff wollte seinen ehrgeizigen Plan, einen möglichst großen Teil der zu der vormaligen königlichen Domäne Dahlem bei Berlin gehörigen Ländereien der lukrativen Aufsiedelung in private Villengrundstücke zu entziehen und für Wissenschaftszwecke reservieren zu lassen, durch die Artikulation von Ter­rainansprüchen wissenschaftlicher Interessenten fördern. Die Universität aber bedurfte drin­gend neuer Grundstücke und Gebäude; angesichts der raschen Zunahme der Studentenzahlen und der fortlaufenden Gründung neuer Institute litt sie unter dramatischer Raumnot. So or­chestrierte und dirigierte Althoff Forderungen der Wissenschaftler, doch er tat es, indem er deren Eigeninteressen respektierte und zum Ausgangspunkt nahm, um ein Handlungsfeld zu bestimmen, auf dem die Interessen der staatlichen Wissenschaftsverwaltung und jene der Universität zusammenfielen. Dieser partnerschaftliche Umgang mit den Wissenschaftlern, der auch der Arbeitsweise seines Beraternetzes zugrunde lag, beruhte auf dem Auffinden und Ausnutzen von Interessenkongruenzen. Auf dieser Basis konnte Althoff ohne weiteres kon­zertierte Aktionen in die Wege leiten. Sein Dirigat war — wenn man es so ausdrücken darf — kein Dirigismus, der das Eigeninteresse der Mitwirkenden ignoriert, sondern das genaue Ge­genteil. Vielleicht kam hier der besondere Vorteil des Juristen zum Zuge, dessen fachliches Können auf das Aufspüren und die Vermittlung von Interessendifferenzen gerichtet ist, ganz gleich, welche konkreten Inhalte die jeweils zu vermittelnden Interessen auch immer haben mögen.

Fünfter Schritt. Gibt es nach alledem einen bestimmten Brennpunkt, auf den dieses flexible und dynamische Gewebe von Handlungsorientierungen und Handlungen gerichtet war? Althoff und seine Mitarbeiter im Kultusministerium hatten, wie jede Wissenschaftsverwal­tung, natürlich auch mit allen unpersönlichen Sachaspekten des Wissenschaftsbetriebes zu tun, mit Budgets und Statuten, Statistiken und Berichten, Vorschriften und Vereinbarungen, Neugründungen und Umstrukturierungen und dergleichen mehr, und das im Übermaß. Althoffs Format zeigte sich nicht zuletzt darin, sich von dieser Flut von Anforderungen nicht erdrücken zu lassen, sondern unbeirrt daran festzuhalten, dass es in der Wissenschaft zuerst und vor allem auf ehrgeizige, schöpferische Menschen ankommt, denen anspruchsvolle Auf­gaben gegeben werden müssen, an denen sie wachsen, und Freiräume, in denen sie sich ent­falten können. Deshalb stellte er ohne Wenn und Aber die Personalpolitik in das Zentrum seines Tuns und maß alle sonstigen Geschäfte der Wissenschaftsverwaltung daran, inwieweit sie der Entdeckung. Förderung und Entfaltung von Begabungen dienen. Nicht zufällig hat ein sehr großer Teil seines Nachlasses mit Berufungsvorgängen und dem Bemühen zu tun, über jeden einzelnen Kandidaten ein möglichst genaues und umfassendes Urteil zu gewinnen. Komplementär dazu ließ er komplette Übersichten über den Personalbestand auf bestimmten Fachgebieten im Deutschen Reich und in Österreich anfertigen.

Althoff war ein Meister in der selektiven Förderung von Personen, und wenn es ihm mit Hilfe seiner Berater gelungen war, aussichtsreiche Begabungen zu finden, dann scheute er oftmals keine Mühe, um ihnen zu maßgeschneiderten, ganz auf die Individualitäten zugeschnittenen Karrierepfaden zu verhelfen. Das wohl anrührendste Zeugnis eines Gelehrten, der Althoffs fördernde Zuwendung in dieser Intensität erfahren hat, stammt von dem Mediziner Paul Ehr­lich, der als ungetaufter Jude auch bei größten wissenschaftlichen Meriten in Preußen keine Chance auf eine normale Universitätslaufbahn hatte. Die folgenden Worte stehen in einem Brief, den Ehrlich im Sommer 1907, als Althoff offiziell in Pension ging, an diesen richtete: „Als Assistent herumgeschubst. in die engsten Verhältnisse eingezwängt — von der Universi­tät absolut ignoriert — kam ich mir ziemlich unnütz vor. Ich habe nie einen Ruf an die kleinste Stellung erhalten und galt als ein Mensch ohne Fach — d.h. als vollkommen unverwertbar. Wenn Sie da nicht mit starker Hand und genialer Initiative für mich eingetreten wären, wenn Sie mit nicht mit rastlosem Eifer und gütiger Freundschaft die Arbeitsmöglichkeiten zurecht gemacht hätten, unter denen ich mich entwickeln konnte, wäre ich vollkommen brachgelegt gewesen".

Der gleiche Brief enthält auch eine Passage, in der Ehrlich, der ein Jahr später mit dem No­belpreis geehrt wurde, Althoffs Bedeutung für die Wissenschaft im Ganzen würdigte. „Was Sie Unvergängliches geschaffen haben, ist den führenden Geistern wohl schon längst voll bewusst und wird in Zukunft — wenn erst das Tagesgeschrei der Parteien verstummt sein wird — Allgemeingut werden. Sie haben den Fortschritt der Wissenschaft auf allen Gebieten mehr gefördert als irgendein anderer...- Über große Forscher wird dergleichen manchmal gesagt, für Wissenschaftspolitiker haben solche Komplimente absoluten Seltenheitswert. Und den­noch können, das lehrt uns Althoff, Wissenschaftspolitiker ebenso kreativ sein wie Hoch­schullehrer und Forscher. Warum auch sollte man jene, die Türen öffnen und Wege bahnen, weniger schätzen als jene, die durch die geöffneten Türen gehen und die gebahnten Wege beschreiten? Aber da ist ein enormer Unterschied: Mit den Lebensläufen berühmter Gelehrter lassen sich ganze Bibliotheken füllen, mit den Biographien berühmter Wissenschaftspolitiker kaum mehr als ein schmaler Band. Zu dieser raren Spezies gehört Friedrich Althoff. Die Stadt Dinslaken, verehrte Anwesende, hat der Wissenschaft im alten Preußen, in Deutschland und in der Welt einen großen Mann geschenkt, der unvergessen bleibt. Seien sie stolz auf ihn, und seien Sie stolz auf Ihre Stadt!