Friedrich Althoff und sein Werk

Anlass:

Aufstellung der Büste von Friedrich Althoff

Datum:

26.02.1996

Ort:

Rathaus Dinslaken

Autor:

Prof. Dr. Bernhard vom Brocke

Sehr geehrter Herr Bürgermeister!
Sehr geehrte Festversammlung!


Wir ehren heute einen Sohn Ihrer Stadt, der am 19. Februar 1839, also vor 157 Jahren in diesem Hause, dem alten Dinslakener Kastell, geboren wurde.

Es ist schon etwas Ungewöhnliches, daß in den letzten Jahren gleich zwei Städte Ihres Bürgers mit Aufstellung einer Büste gedenken, zum einen die Stadt Berlin, in der Althoff die letzten 25 Jahre seines Lebens lebte und am 20. Oktober 1908 mit 69 Jahren verstarb, zum anderen die Stadt Dinslaken, in der er 1839 geboren wurde. Schon 1907 hat, wie wir eben hörten, die Stadtverordnetenversammlung der Stadt Dinslaken eine Straße nach Althoff noch zu seinen Lebzeiten benannt. 1910 folgte, zwei Jahre nach seinem Tod, die Stadt Steglitz bei Berlin, heute Berlin-Steglitz, mit der Benennung der Althoff-Straße, die im Althoff-Platz, einem kleinen Park endete. In diesem errichtete sie eine Bronze-Büste auf steinernem Sockel hinter einer marmornen Bank, die den eilig hastenden Großstädter Ruhe bot. Das Denkmal wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört, die Büste vermutlich eingeschmolzen. Aber vor fünf Jahren wurde der Platz in den alten Zustand versetzt und im Mai 1991 die neu gegossene Büste wieder aufgestellt. Der Abguß wurde beide Male -1910 und 1991 - von der Berliner Traditionsgießerei Noack nach der Büste angefertigt, die der Bildhauer Fritz Schaper im Auftrag Kaiser Wilhelms II. noch zu Lebzeiten Althoffs aus carrarischem Marmor meißelte. Die Marmorbüste ist zum 70. Geburtstag des Verstorbenen 1909 in der Nationalgalerie enthüllt worden. Auch der heute hier zu enthüllenden Bronzebüste hat Schapers Meisterwerk als Vorlage gedient, auch sie ist bei Noack gegossen worden.

Wir wollen uns fragen, warum diese Ehrungen in den letzten Jahren nach jahrzehntelangem Schweigen? Nur zu Althoffs 50. Todestag, am 20. Oktober 1958, waren in einem seltenen, von der Öffentlichkeit freilich kaum zur Kenntnis genommenen Akt historischer Würdigung von der Bundesregierung, dem Land Berlin, von Rektor und Senat der Freien Universität und dem Präsident der Max-Planck-Gesel lschaft Otto Hahn, vertreten durch Max von Laue, Kränze an Althoffs Grab und Grabmal im Berlin-Dahlemer Botanischen Garten niederlegt worden. In der Hochschulreformdiskussion der 50er und 60er Jahre war die Gestalt Althoffs durchaus noch lebendig. Sein 75. Todestag im Jahre 1983 dagegen wurde schweigend übergangen.

Es ist schon etwas Ungewöhnliches um diesen Mann: Über ein Vierteljahrhundert hat er unter fünf Kultusministern als Vortragender Rat für die Universitäten und dann als Ministerialdirektor im Preußischen „Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten“ gedient. Er war nie selber Minister oder Staatsskretär, obwohl er es hätte werden können. Aber man nannte ihn Preußens „heimlichen Kultusminister“ und „Bismarck des Hochschulwesens“. Als solcher hat er maßgeblich dazu beigetragen, daß Deutschlands höhere und hohe Schulen, Akademien, Kliniken, Laboratorien und Forschungsinstiute Weltgeltung behielten.

Warum heute diese Ehrung in Dinslaken? Warum fand der Vorschlag des Nestors der Dinslakener Geschichte, Willi Dittgen, Ihr neues Mädchengymnasium nach Friedrich Althoff zu benennen, im Jahre 1968 keine Resonanz? Obwohl ihm die Frauen in Preußen die Zulassung zur höheren Schulbildung und zum Hochschulstudium verdankten Und warum fanden erst aus Anlaß des 150. Geburtstags im Jahre 1989 drei wissenschaftliche Kongresse statt? Den ersten veranstaltete im Juni 1989 die Akademie der Wissenschaften der Noch-DDR in Ost-Berlin, die frühere Preußische Akademie, deren Ehrenmitglied Althoff war. Obgeich Althoff dort jahrzehntelang als führender Vertreter des Staats-monopolistischen Kapitalismus bezeichnet worden, der das Ziel verfolgt habe,

„Forschung und Hochschulbildung den sozialökonomischen und ideologischen Bedürfnisen der imperialistischen Bourgeoisie anzupassen“. Es folgten im Juli desselben Jahre ein internationales Symposium in Heilbronn mit zahlreichen amerikanischen Gelehrten in englischer Sprache über „The Althoff System“ und im Mai 1990 ein internationales Symposion in Bad Homburg. Alle drei Tagungen haben sich in drei gewichtigen Büchern und zwei Doktorarbeiten niedergeschlagen.

Althoff hat wie gesagt maßgeblich dazu beigetragen, daß Deutschlands höhere und hohe Schulen, Akademien, Kliniken, Laboratorien und Forschungsinstitute Weltgeltung behielten und erwarben. Von diesem geistigen Kapital zehren wir als rohstoffarmes Land noch heute. Aber wie lange noch? War es doch neben den Produktivkäften Boden, Kapital und Arbeit nicht zuletzt die „Produktivkraft Wissenschaft“, die Deutschlands wirtschaftlichen Wiederaufstieg nach zwei Weltkriegen ermöglichte. Für uns heute gehört Friedrich Althoff neben Wilhelm von Humboldt(1767-1835) und Carl Heinrich Becker (1876-1933) sowie Althoffs Schüler und Mitarbeiter Friedrich Schmidt-Ott (1860-1956) zu den großen Kulturpolitikern und Wissenschaftsadministratoren, die Preußen-Deutschland hervorgebracht hat: Humboldt im Geiste der Aufklärung, als nach der Nie derlage Preußens gegen die Freiheitsparole der Französischen Revolution und das Frankreich des Ersten Napoleon das Königswort von Memel (1807) den Reformern freie Hand gab („der Staat muß durch geistige Kräfte ersetzen, was er an physischen verloren hat“); Althoff nach dem siegreichen Krieg gegen das Frankreich des Dritten Napoleon in einem Zeitalter wirtschaftlicher Prosperität, des Übergangs von der Agrar- und Ständegesellschaft zur kapitalistischen Industrie-gesellschaft; der letzte Kgl. Kultusminister und Schöpfer der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und der Notgemeinschaft Deutscher Wissenschaft Friedrich Schmidt-Ott und der preußische Kultusminister in der Weimarer Republik Carl Heinrich Becker mit dem Ziel, die Folgen eines verlorenen Krieges zu überwinden, die deutsche Wissenschaft aus ihrer internationalen Isolation zu befreien. 1

Ich möchte zunächst Althoffs Leben und Werk skizzieren, bevor ich dann einige Aspekte seines Werks, Leitideen und Ziele hervorheben.

I. Friedrich Althoff: Leben und Werk

Im Jahre 1929 begann Willy Hellpach, Heidelberger Psychologieprofessor, demokratische Reichstagsabgeordneter und vormaliger badische Unterrichtsminister und Staatspräsident, mit den Worten:

„Ein Dämon hat über 25 Jahre lang der Pflege und Lehre deutscher Wissenschaft seine Spuren eingraben dürfen. In einem Zeitalter, da leitendes Wirken im Staate mehr und mehr wieder dem Büro-, Kasernen -oder Schloßadel vorbehalten wurde, kam er, bürgerlichen Namens, aus Deutschlands bürgerlichster Gegend, Preußens bürgerlichster Provinz, vom Niederrhein, und wenn er schon der Exzellenz nicht entgehen konnte, so ist er doch auch auf dem Gipfel seiner Macht nicht nobilitiert worden.“

Althoff ließ andere nobilitieren.

Althoff wurde am 19. Februar 1839 auf dem alten Kastell in Dinslaken - einer Schloßbesitzung der Familie der Mutter -als Sohn des damals 54jährigen preußischen Domänenrates Friedrich Theodor Althoff und seiner zweiten Frau, der 37jährigen Julie von Buggenhagen geboren. Väterlicherseits kam er aus westfälischer Beamten- und Pfarrersfamilie bäuerlichen Ursprungs. Mütterlicherseits war er ein Enkel des Preußischen Kriegsministers und vorherigen Regierungspräsidenten von Cleve, Julius Ernst von Buggenhagen, aus pommerschem Uradel. Die Herkunft aus bürgerlicher und adeliger Familie teilte Althoff mit Bismarck. Sie mag ihm die geistige Unabhängigkeit und Souveränität gegeben haben, seine Ziele gegen Hoch- und Niedrig in der Stände- und Klassengesellschaft des wilhelminischen Obrigkeitsstaats durchzusetzen. 

Die kluge, temperamentvolle, tief religiöse Mutter zog nach dem Tod des Gatten 1852 mit dem 13jährigen Sohn nach Wesel, damit dieser dort das Gymnasium besuchte und mit 17 1/2 Jahren das Abitur ablegte. Nach dem Studium der Rechte in Bonn, unterbochen von einem Semester in Berlin, war Althoff Referendar an rheinischen Gerichten und am Berliner Kammergericht. Nach dem ersten Examen im November 1861 verlobte sich der 23jährige mit der 19jährigen Marie Ingenohl in Neuwied, einem Mädchen von großer Zartheit und Anmut. Zweieinhalb Jahre später heirateten sie in Ehrenbreitstein.

Die Ehe bot dem Rastlosen offensichtlich Ruhe, Hilfe und Stütze. Sie war nach den Maßstäben der Zeit glücklich, aber kinderlos, vielleicht ein Grund für den späteren Arbeitsfanatismus. Seine Frau aber litt. Nie wußte sie, wann er von den Amtsgeschäften heimkehren, nie, wann er mit der nächtlichen Arbeit aufhören, selten, wen er ihr als Gast zuführen würde. Sie ertrug seine Unpünktlichkeit und seine Wunderlichkeit, ihre Einsamkeit mit immer gleicher Liebe und Geduld; sie lebte das Los vieler Frauen bedeutender Männer bis in unsere Zeit. An einem der letzten Geburtstage schrieb sie ihm diese Verse:

Große Wünsche für Dich hab ich nicht mehr.
Genug der Erfolge, genug der Ehr!
Nur ein paar Jahre zwischen Gott und der Welt
Zu leben wie Du es Dir vorgestellt.
Das wäre für mich wieder glückliche Zeit
Nach zwanzigjähriger Einsamkeit.

Sie hat, in der Berliner Zeit schweren nervösen Herzanfällen unterworfen, viele Monate des Jahres in Meran, Martinsbrunn und anderen Sanatorien verbracht. Althoff in Meran, Wiesbaden, Kissingen, meist in seinem geliebten Schierke im Harz, so daß in den letzten Jahren 2 1/2 Haushalte finanziert werden mußten, wie er 1904 einem Freunde schrieb. Er, der gewohnt war, Summen von Hunderttausenden und Millionen bei Industriellen und Bankdirektoren für die Wissenschaft flüssig zu machen, mußte, wieder einmal in größter Geldverlegenheit, um ein Darlehen von 900-1200 Mark bis zum nächsten Quartalsgehalt bitten2; Marie Althoff wurde nach dem Tode ihres Mannes gesund; sie überlebte ihn um 17 Jahre und sorgte für sein Ansehen durch die Sammlung und Ordnung des heute wieder im Preußischen Geheimen Staatsarchiv zugänglichen Nachlasses und die Herausgabe von 3 Büchern: Aus Friedrichs Althoffs Jugendzeit, aus seiner Straßburger Zeit und aus seiner Berliner Zeit.

1870 ließ sich Althoff als Rechtsanwalt in Köln nieder. Er schwankte lange zwischen praktischer Tätigkeit oder einer wissenschaftlichen Laufbahn. Die Doktorarbeit war noch nicht fertig, als sich ihm nach der Rückkehr aus dem deutsch-französischen Krieg, an dem er als Sanitäter teilhahm, die Chance bot, beide beruflichen Wege zugleich zu erkunden. Mit dem Ziel war, an der in Straßburg geplanten Reichsuniversität die Hochschullehrerlaufbahn

einzuschlagen, trat Althoff 1871 als Justitiar und Dezernent für Kirchen- und Schulsachen in die Verwaltung von Elsaß-Lothringen ein. In Oberpräsident Eudard von Möller und dem Kommissar für die Universitätsgründung, dem ehemaligen badischen Ministerpäsidenten, Bismarck-Gegner und Katholiken Frhr. v. Roggenbach fand er zeitlebens verehrte Lehrmeister. Beide waren erklärte Liberale. Möller, der als Regierungspräsident von Köln im Revolutionsjahr 1848 und dann als erster Oberpärsident von Hessen-Nassau in Kassel viel zur Versönung der neuen Provinzen mit dem alt-preußischenStaat begetragen hatte, galt als der beste preußische Verwaltungsfachmann der Zeit und zog Althoff zu fast allen Arbeiten heran, die die Einrichtung der deutschen Verwaltung in den Reichslanden mit sich brachte.

Das, was man später „System Althoff“ nannte, wurde in Straßburg geboren. Hier war Althoff in der Doppelstellung des Verwaltungsbeamten und Hochschul-lehrers, maßgeblich an der Gründung der Universität und der Berufung der Professoren beteiligt. Hier hat Althoff seit 1872 als a. o. und 1880 o. Professor für französisches und modernes Zivilrecht die Erfahrungen gesammelt, die er ab 1882 von Berlin aus verwirklichte. Er war zudem Professor geworden, ohne je eine Doktorarbeit oder Habilitationsschrift vorlegt zu haben. Auch das ist ungewöhnlich genug.

In Straßburg gewann Althoff einige seiner wichtigsten späteren Berater und Freunde, so den Nationalökonomen und Kathedersozialisten Gustav Schmollet (1838-1917), an dessen Berufung er mitgewirkt hatte. Der spätere Chef des Kaiserlichen Geheimen Zivilkabinetts Rudolf von Valentin! (1855- 1925) war Althoffs Schüler.3

Von 1882 bis zu seinem Abschied am 1. Oktober 1907 hat Althoff in Berlin unter fünf Kultusministern zuletzt autokratisch das preußische Hochschulwesen regiert, die ersten 15 Jahre nur einer unter 33 Vortragenden Räten, auch das letzte Jahrzehnt nur einer von vier Ministerialdirektoren. Seit 1896 unterstanden ihm als Ministerialdirektor und Leiter der Ersten Unterrichtsabteilung Hochschulen, wissenschaftliche Anstalten, Bibliotheken, Kunstakademien, Museen, Denkmalpflege, das höhere Schulwesen -und ab 1900 auch die medizinischen Wissenschaften. Nach seinem Ausscheiden wurde sein Ressort, da kein einzelner mehr der Arbeitslast gewachsen war, unter vier Abteilungsdirigenten geteilt. Daneben blieb Althoff nominell weiterhin Hochschullehrer. Er wurde 1891 o. Prof, in Bonn, 1896 o. Hon. Prof. in Berlin, 1904 Exzellenz, 1907 Wirkl. Geh. Rat. Nach seinem Abschied wurde der fünffache Ehrendoktor und Ehrenmitgled der Akademien zu Berlin, Göttingen und Erfurt von Wilhelm II. zum Kronsyndikus, also zum juristischen Berater der Krone, ernannt und auf Lebenszeit ins preußische Herrenhaus berufen. Unter Althoffs Leitung vollzog sich der Ausbau des Hochschulwesens zum zentral gelenkten und mit den Mitteln der Durchstaatlichung und Bürokratisierung vorangetriebenen „Großbetrieb“. Grundlage bildeten die von ihm begründeten Universitätsstatistik, jährliche Universitätschroniken und die 1898 von ihm ins Leben gerufene jährliche „Konferenz von Vertretern deutscher Regierungen in Hochschulangelegenheiten“ unter Einschluß Österreichs. Sie war der Vorläufer der heutigen Kultusministerkonferenz der Länder, die 1998 ihr hundertjähriges Bestehen feiern wird.

Alles das geschah nicht ohne scharfe Konflikte mit dem Selbstverwaltungsprinzip der Universitäten. Gegen ihren Widerstand setzte Althoff 1899 die Gleichstellung der Technischen Hochschulen und 1900 der drei höheren Schularten (Gymnasium, Realgymnasium, Oberealschule) im Hinblick auf den Zugang zum Universitätsstudium durch. Schließlich erreichte er auf der Frauenschulkonferenz von 1906 auch den Zugang der Frauen zu den höheren Schulen und zum Studium. Diese scheinbare Selbstverständlichkeit wirft Licht auf Althoffs Arbeitsweise. Denn das Mädchen-schulwesen gehörte nicht in sein Ressort, sondern in die Niedere Unterrichtsabteilung des Ministeriums zusammen mit dem Volksschulwesen, den Taubstummen- und Idiotenanstalten. Aber die Führerinnen der Frauenbewegung wandten sich, da er im Rufe stand, das Unmögliche möglich zu machen, über die Kaiserin an ihn und er hatte, mit der Materie bestens vertraut, schon in den 1890er Jahren Professoren mit dem Speziauftrag in die USA geschickt, festzustellen, ob Frauen zum Studium der Mathematik und Naturwissenschaften geeignet seien, was in Deutschland von vielen Professoren bestritten wurde. Neue Althoff beschrittene Wege der Organisation und Finanzierung durch von privates Kapital nach ausländischem Vorbild mündeten 1911 in die Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, der heutigen Max-Planck-Gesellschaft.

Virtuos und einfallsreich waren Althoffs Wege und Methoden, Gelder für die Finanzierung von Wissenschaft und Kultur zu gewinnen. Er reiste den Kultusministern in den Urlaub nach, um seine Ziele zu erreichen. Als in Marburg 100.000 DM zum Bau einer Universitätsklinik fehlten, streckte Althoff das Geld im Namen des Berliner Zeitungsverlegers August Scherl vor, der davon nichts wußte, aber dafür bekannt war, daß er Orden sammelte. Scherl verlangte den Roten Adler Orden, der Kaiser bewilligte nur den Kgl. Kronenorden. Scherl zog seine Geldzusage zurück. Die Situation schien aussichtlos verfahren. Aber Althoff reiste zu seinem badischen Kollegen Dr. Böhm nach Karlsruhe, versprach einen berühmten Heidelberger Professor nicht nach Berlin abzuwerben, machte einige Tauschgeschäfte und erhielt für Scherl vom Badischen Großherzog das Großkreuz des Zähringer Löwen. Daraufhin konnte dieser nicht mit einem niedriger eingestuften preußischen Orden abgefunden werden und erhielt den ersehnten Roten Adler. Der Bau der Klinik war gesichert. 1902 errichtete Althoff unterUmgehung des Landtags und des Finanzministers die erste Professur für Hals-, Nasen-, Ohrenkrankheiten mit dem Ruhegehalt eines außerordentlichen Professors der Anatomie, der sehr reich war und gegen Verzicht auf die Pension zum Persönlichen ordentlichen Professor ernannt wurde.

Die Voraussetzung von Althoffs Einfluß über die Grenzen seines Ressorts und Preußens hinaus war ein engmaschiges personales Beziehungsgeflecht von Vertrauensleuten, das sich schließlich in alle Bereiche der Verwaltung und des öffentlichen Lebens erstreckt, in die Hochschulen, das kaiserliche Zivilkabinett, Ministerien, Kirchen, Parlamente, Parteien, Presse und die Kreise der Hochfinanz und das Kritiker wie Max Weber kurz „System Althoff“ nannten.

II. Aspekte seines Werks, Leitideen und Ziele

Wenn es Althoff aus einer Beamtenstellung gelang, zu „Preußens heimlichem Kultusminister“ (Neue Zürcher Zeitung, 28.9.1907) und „Bismarck des Hochschul-wesens“ (Vossische Zeitung, Berlin, 19.10.1918) zu werden, so verdankte er das einer ungewöhnlichen Kombination persönlicher Eigenschaften, nämlich Intelligenz und Phantasie, gepaart mit Fleiß und Energie, Zivilcourage, Uneigennützigkeit, diplomatischem Geschick und einer guten Portion Ver-schlagenheit. Er konnte zehn Schreibern simultan diktieren -die Schreibmaschine wurde erst um 1910 eingeführt- und er hatte als Regierungskommissar in den Debatten des Parlaments meist die Lacher auf seiner Seite. Sein Hauptfehler war seine notorische Unpünktlichkeit, über die schon Schmoller 1882 an den Kultus-minister schrieb, er werde in alle Sitzungen zehn Minuten bis eine Stunde zu spät kommen. Sie hat ihm offenbar nicht geschadet. Mit Recht sahen viele Professoren das stundenlange Warten über die vereinbarte Zeit hinaus in dem berüchtigten fensterlosen Wartezimmer des ständig Überlasteten im Kultusministerium als eine Rücksichtslosigkeit an.4 Im übrigen läßt sich durch manches Beispiel belegen: Wer das erstemal nach einer halben Stunde wegging, wurde das nächstemal pünktlich vorgelassen.

Urwüchsiger Humor, amüsanter Witz, Zivilcourage, das Fehlen jeder persönlichen Eitelkeit und kluge Planung gewannen Althoff die Gunst Wilhelms II. Sie bot ihm in der konstitutionellen Monarchie Rückhalt gegen alle Angriffe der Universitäten, des Parlaments, der Presse und Bürokratie, sie wußte er geschickt für seine Pläne nutzbar zu machen, sei es beim Vortrag in Potsdam, bei Einladungen zu Abendessen im kaiserlichen Familienkreis, in Gesprächen mit der Kaiserin oder 1905 auf der Mittelmeerreise des Kaisers mit der Yacht Hohenzollern. Auch auf dieser setzte sich Althoff in für ihn typischer Weise über die Formen höfischen Verkehrs hinweg: Allem Pompösen abgeneigt, nahm er an dem feierlichen Einzug in Tanger nur privatissime unter der Zuschauermenge teil; das Pferd mit der Aufschrift „Althofff“ mußte nach der Landung von Valentini besteigen. Spätestens seit der Schulkonferenz von 1900 läßt sich das ganz ungewöhnliche direkte Vortragsrecht -unter Umgehung des Ministers- beim Kaiser nachweisen. In Wilhelms II. Lebens-erinnerungen wird von den hunderten höheren Beamten Preußens nur der „geniale Ministerialdirektor Althoff“ erwähnt. 5

Mit der Hilfe des Monarchen als der wichtigsten Figur auf dem Schachbrett seiner internationalen Wissenschaftspolitik begann Althoff in den 90er Jahren zu einer Zeit, da die deutsche Politik ohne herausragende Politiker ziel-und richtungslos war, seine Vision zu verwirklichen: das Weltreich deutschen Geistes in Wissenschaft und Kultur.

Die Wertvorstellungen, die Althoffs politischen Standort und sein Wirken bestimmten, waren Nationalstaat. Humanität und Toleranz. Sein wissenschafts-politisches Ziel war, für Deutschland und besonders für Preußen die führende Stellung in Wissenschaft und Hochschulwesen erringen und erhalten -freilich nicht im Sinne eines Hurra-Patriotismus; denn dazu war er zu sehr rheinischer Bürger, aufgewachsen unter Protestanten, Katholiken und Juden, die, wie er einmal betonte, in seiner Kindheit in Dinslaken einträchtig miteinander lebten. Und er war stolz darauf, gegenüber seinem Freunde und Berater, dem Philosophen und Erziehungs-wissenschaftler Friedrich Paulsen (1846-1908) von sich sagen zu können:6 „Ich habe in meinem Leben keine Hetze mitgemacht, keine Katholikenhetze und keine Judenhetze.“ Wir können hinzufügen: auch keine Sozialistenhetze.

Vielmehr versuchte er auch die „Partei des Umsturzes“ in seine Pläne einzuspannen. So bediente sich Althoff 1893 eines von der Sozialdemokratie zusammen mit den Ortskrankenkassen organisierten monatelangen Boykotts die unhaltbaren Zustände in den weltberühmten Berliner Chariteekliniken, um den Widerstand des Finanzministers gegen die Sanierung zu brechen, ohne daß es infolge der ablehnenden Haltung der Partei zu einem direkten Bündnis mit ihr kam. Diese Vorurteilslosigkeit „macht ihm kein zweiter Ministerialdirektor in Preußen nach“, schrieb 4 Tage nach seinem Tode der „Vorwärts“, als es ihm nicht mehr schaden konnte.7 Im übrigen gelang dann Althoff ab 1896 die Sanierung der Charitee, mit der alle seine Vorgänger gescheitert waren. Eine Preußische Staatsanleihe von 16 Millionen Goldmark = 130 Mill DM wurde per Gesetz aufgelegt. Der alte Botanische Garten der Universität wurdeaus dem dicht bebauten Schöneberg aufdie Kgl. Domäe Dahlem verlegt und aus dem Verkauf der Hälfte des Schöneberger Baulandes wurde die Anleihe zurückgezahlt.

Im Jahre 1905 weitete sich ein von Österreich ausgehender sog. „akademischer Kulturkampf“ um die Existenzberechtigung katholischer (und auch jüdischer) Studentenverbindungen unter Führung der Marburger Studentenschaft zu einem allgemeinen Konflikt um die „akademische Freiheit“ aus. Es kam zu Solidarisierungen zwischen den Studentenschaften und den mehrheitlich protestantischen Lehrkörpern der Hochschulen. Althoff setzte mit Energie und schließlichem Erfolg alle Machtmittel des Ministeriums für die Wiederherstellung des konfessionellen Friedens ein. Er lud die Vertreterder Studenten nach Berlin und versuchte, sie nach alter Korpsstudentenmanier im „Büdesheimer“, einem Weinlokal nahe dem Kultus-ministerium, unter den Tisch zu trinken. Den Studenten erklärte er mit unerbittlicher Liebenswürdigkeit, daß die Hochschulen jedem Studierenden die gleiche Freiheit gewährten, auch den Katholiken, den Juden und den Ausländern. Die Freiheit der einen dürfe nicht zur Unfreiheit der anderen führen. Zehn Tage später, am 23. Februar 1905, wiederholte Althoff seine Erklärung im Abgeordnetenhaus in einer auf-sehenerregenden Rede über die Geschichte der akademischen Freiheit seit dem 12. Jahrhundert.

Zwanzig Jahre später 1925 stand Kultusminister Carl Heinrich Becker betr. der Studenten jüdischer Konfession in einer ähnlichen Situation. Nur ließ er als Demokrat die Studentenschaften abstimmen und - unterlag; denn diese waren nicht bereit, den Ausschluß ihrer jüdischen Kommilitonen aus den Allgemeinen Studentenausschüssen rückgängig zu machen.8

Wie konnte Althoff diese Erfolge erringen? Eine Erklärung ist, daß er langfristig planen konnte; er hielt geduldig und zäh und mitunter über Jahre hinweg an seinen Projekten fest und ging innerhalb eines ganzen Heeres von

Beratern, die seine Pläne durch Denkschriften und Gutachten vertieften, vertrauliche, oft selbst den engsten Mitarbeitern verborgene Wege, ungern dann plötzlich an die Öffentlichkeit zu treten, wenn die Situation günstig schien, die Mehrheit im Landtag gefunden war, die Geldmittel und Mäzene bereitstanden. Obwohl er parteipolitisch zeitweise den Nationalliberalen nahestand und für diese 1878 und 1882 Reichstagskandidaturen erwog, gehörte er keiner Partei an, um sie alle -Nationalliberale, Fortschrittler, Konservative, Zentrum, selbst die Sozialdemokratie -besser für seine Pläne einspannen zu können. Manche Projekte wie die Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Jahre 1911 oder die Errichtung der ersten bürgerlichen Stiftungsuniversität auf deutschem Boden im Oktober 1914 in Frankfurt am Main, die er seit den 1890er Jahren vorbereitete, sind so erst nach seinem Tod zum Abschluß gelangt.

In seiner Berufungspolitik ließ sich Althoff gleichermaßen von den Interessen der Wissenschaft und denen des Staates leiten; der Abbau des Kulturkampfes durch die Berufung von Katholiken und die Überwindung des Klassenkampfes durch Förderung der sog. Kathedersozialisten auf den staatswissenschaftlich-nationalökonomischen gehörten zu seinen wichtigsten innenpolitischen Zielen.

In Preußen war es vor Althoffs Amtszeit für einen Sozialdemokraten unmöglich, für einen ungetauften Juden fast unmöglich, für einen Katholiken nur selten möglich, ordentlicher Professor, das heißt: königlicher Beamter, zu werden. Dafür sorgten schon die überwiegend protestantischen Fakultäten. Gegenüber den Fakultäten hat Althoff sich nicht gescheut, mit dem Mittel des Oktroi, häufiger jedoch, auf größtmögliche Effizienz und Reibungslosigkeit bedacht, mit Hilfe seiner Vertrauensleute die Berufung von Katholiken und auch Juden durchzusetzen, wobei er sich von den besten Fachleuten beraten ließ.

Nicht nur katholische, auch sozialdemokratische Blätter haben Althoffs Kampf gegen „Professorendespotismus und Cliquenwesen“ Lob gezollt. Häufiger als die offenen Konflikte waren die nicht an die Öffentlichkeit gelangten; das Überlistet werden wurde eines der stärksten Ressentiments gegen sein Regiment.

Althoffs Kritikern entgegnete der Nationalökonom und Kathedersozialist Werner Sombart am 4. August 1907 in der Neuen Freien Presse, Wien, dem großbürgerlich-liberalen Weltblatt der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, die liberalen Blätter wieder einmal den Kopf des angeblichen „Zentrums-Mannes“ Althoff forderten -mit der provokatorischen Frage:9

„Warum haben sich die Universitäten das gefallen lassen? [...]
Warum hat man es in unserer Zeit der Arbeitseinstellungen nie mit
dem Streik versucht? Oder mit der Niederlegung des Amtes? [...]
Am Ende hat auch jeder die Vorgesetzten, die er verdient. Und
Sklavenseelen gegenüber wird ein Starker unwillkürlich zum brutalen Herrenmenschen.

Sombart machte in seiner ebenso brillanten Analyse des „Systems Althoff' wie herben Zeitkritik, die damals von allen großen Zeitungen des Reichs bis hin zum sozialdemokratischen Vorwärts teils kommentarlos nachgedruckt, teils kritisch kommentiert wurde, für „die Vermehrung des Servilismus“ nicht den Ministerialdirektor, sondern „den allgemeinen Zug zum Reserve-leutnantstum, der unsere Zeit erfüllt“, verantwortlich; „das Überwuchern der materiellen über die ideellen Interessen; das Überangebot von Arbeitskräften auf dem Geistesmarkte“, mit anderen Worten: den ,Untertanen‘ Heinrich Manns.

Nicht von ungefähr fielen die ersten Nobelpreise für Medizin an in Preußen wirkende Gelehrte, denen Althoff die Forschungsmöglichkeiten eröffnete: der erste an Emil von Behring 1901, der fünfte an Robert Koch 1905, der achte an Paul Ehrlich 1908. Den genialen, aber unbequemen Militärarzt und akademischen Außenseiter Behring mußte der Hochschuldezernent nach dreimaliger Ablehnung 1895 der Marburger Medizinischen Fakultät oktroyieren, heute sind die Marburger stolz auf ihren größten Mediziner und verleihen den Emil-von-Behring-Preis. Vor der Entwicklung des Diphterieheilserums durch Behring und und seiner klinikreifen Weiterentwicklung durch Paul Ehrlich starben in Deutschland jährlich 50 000 Kinder, d. h. jedes zweite Kind. Robert Koch wäre ohne Althoffs Förderung niemals ordentlicher Professor in Berlin, niemals Direktor des Instituts für Infektionskrankheiten, niemals Mitglied der Akademie der Wissenschaften geworden. Auch er hat dies dankbar anerkannt. Paul Ehrlich, der Entdecker des Heimittels Salvarsan gegen die Syphilis, hatte Althoff aus bedrückenden persönlichen Verhältnissen unter den Koryphäen Virchow und von Bergmann in Berlin befreit und zuerst in Berlin, dann in Frankfurt ein Staatliches Forschungsinstitut geschaffen. Dieser schrieb ihm am 27. Juli 1907 in einem Dankesbrief:

„Ich persönlich danke Ihnen meine ganze Karriere und die Möglichkeit, meine Ideen nutzbringend auszugestalten. Als Assistent herumgeschubst, in die engsten Verhältnisse eingezwängt -von der Universität [als ungetaufter Jude, v. B.] absolut ignoriert -kam ich mir ziemlich unnütz vor. Ich habe nie einen Ruf an die kleinste Stelle erhalten und galt als Mensch ohne Fach, d. h. vollkommen unverwertbar. Wenn Sie da nicht mit starker Hand und genialer Initiative für mich eingetreten wären, wenn Sie mir nicht mit rastlosem Eifer und gütiger Freundschaft die Arbeitsmöglichkeiten zurechtgemacht hätten, unter denen ich mich entwickeln konnte, wäre ich vollkommen brachgelegt gewesen.

Beispiele aus anderen Disziplinen ließen sich unschwer ergänzen.

Das internationale Ansehen der deutschen Wissenschaft vor 1914 fand seinen sichtbarsten Ausdruck in der großen Zahl der Nobelpreise und der Attraktivität deutscher Hochschulen für Ausländer. 1905 initiierte Althoff einen Professorenaus-tausch mit der Harvard-Universität gegen erhebliche Widerstände aus den Reihen der Berliner Professoren, die ihn als Anerkennung der wissenschaftlichen Ebenbürtigkeit ihrer amerikanischen Kollegen ablehnten. Althoff jedoch gewann den Kaiser für die Idee.10 Schon ein Jahr später folgte unter Federführung des Präsidenten der Columbia University, Nicholas Murray Butler, ein zweiter, auf höchster Ebene zwischen Wilhelm II. und dem Präsidenten der Vereinigten Staaten Theodore Roosevelt vereinbarter Austausch mit den übrigen amerikanischen Universitäten. Jährlich ging ein Kaiser-Wilhelm-Professor nach den USA und kam ein Theodore- Roosevelt-Professor nach Berlin. Bei den Antrittsvorlesungen war der Kaiser zugegen, die amerikanischen Professoren verkehrten mit ihren Frauen bei Hof.11

Am 27. Juni 1906 verlieh die älteste und berühmteste Universität Amerikas, die Harvard-Universität in Cambridge Friedrich Althoff als viertem Deutschen die Ehrendoktorwürde. Nach dem Glückwunschtelegramm Kaiser Wilhelm II. zur Ehrenpromotion seines Bruders Heinrich fünf Jahre davor war es die höchste Auszeichnung, die Amerika als Land ohne Orden zu vergeben hatte. Ungewöhnlich waren die Umstände der Verleihung. Althoff war durch Krankheit und die Geschäfte verhindert, die Auszeichnung persönlich entgegenzunehmen, ein in der Geschichte Harvards noch nicht vorgekommener Fall. Ungewöhnlich war auch die Begründung. In der Laudatiowurden zwar die Verdienste um den im Vorjahre eröffneten Professorenaustausch zwischen Deutschland und Amerika hervorgehoben, aber sie traten zurück hinter die Bewunderung der Persönlichkeit des Ausgezeichneten. Die Huldigung des Harvard Präsidenten Charles William Eliot (1834-1926) galt „der bedeutungsvollsten Persönlichkeit im deutschen Unterrichtswesen“:

“Ein Mann, maßvoll, energisch, unermüdlich, scharfsichtig weise und mutig.” “-virum ingenio austero, strenuoque, animo prudenti atque firmo, Germanorum in rebus academicis principem“ hieß es in der in lateinischer Sprache gehaltenen Laudatio.12 Eliot, bekannt für knappe, prägnante Würdigungen, hatte als junger Professor in Deutschland Chemie und das Unterrichtswesen studiert; in seiner vierzigjährigen Amtszeit von 1869 bis 1909 -fast identisch mit der Althoffs von 1871 bis 1907 -schuf er das modern Harvard und hat als einer der großen Universitätspräsidenten des Landes das Erziehungswesen der Vereinigten Staaten nachhaltig geprägt.

Es folgten weitere Abkommen Preußens mit den europäischen Nachbarn und den USA über Lehrer; Schüler- und Studentenaustausche. Sie wurden ergänzt durch den Aufbau eines weltweit geplanten Netzes von Kulturinstituten, sogenannten „Deutschen Häusern“ -zuerst an amerikanischen Universitäten: Harvard 1903 und Columbia, New York. Alle diese Einrichtungen waren der Beginn einer bewußten auswärtigen Kulturpolitik. Sie wurdebezeichnenderweise nicht vom Auswärtigen Amt, wo die geeignete Persönlichkeit fehlte, organisiert und bildete mit dem erklärten Ziel der Friedenssicherung und Völkerverständigung eine heute fast vergessene Alternative ,Kriegszielpolitik“ des kaiserlichen Deutschland. Gegenüber dem ersten Roosevelt-Professor, dem New Yorker Staatswissenschaftler John William Burgess, der 1871-1873 in Göttingen, Leipzig und Berlin studiert hatte, erklärte Althoff im Frühjahr 1907, als Burgess ihn in seiner Kur in Meran besuchte, den Gelehrtenaustausch als13

“das meistversprechende Mittel, die friedliche und verständnisvolle Annäherung der Völker zu fördern. Wie die Diplomatie einen Fortschritt gegenüber dem Krieg im Verkehr mit der Menschheit bildet, und der Handel wiederum einen Fortschritt gegenüber der Diplomatie, so bildet [...] der Gelehrtenaustausch wieder noch einen weiteren Fortschritt gegenüber dem Handel in Richtung auf die geistige Einheit des Menschengeschlechts. [...] Diplomatie und Handel haben wir seit langer Zeit, nun müssen wir den uneigennützigen geistigen Verkehr zwischen den Führern der Kulturbestrebungen der verschiedenen Nationen hinzufügen, um einer wahren Weltzivilisation den Weg zu bahnen. Mit diesem neuen Kulturbindemittel weerden wir dem Weltfrieden und der Weltkultur eine feste Grundlage geben.

Burgess, der Althoffs Ziele aus zahlreichen Gesprächen seit der ersten Begegnung als Gäste des Kaisers auf Schloß Wilhelmshöhe bei Kassel im August 1905 kannte,

hat den preußischen Ministerialdirektor wegen dieserKonzeption überschwenglich „einen der bedeutendsten Männer der Welt“ genannt, die ihm begegnet seien. Burgess Schüler, der Columbia-PräsidentNicholas Murray Butler, der Althoff in Berlin wiederholt besuchte undseine Ziele enthusiastisch billigte, gehörte zu den Mitbegründern des Völkerbundes. Er erhielt 1931 den Friedensnobelpreis.

Unter Althoffs Leitung erhielt die preußische Bildungs- und Wissenschaftspolitik zum ersten Mal seit Humboldt wieder einen großen Zug ins Weite. Franz Schnabel hat 1953 mit Recht betont, daß in der Klassengesellschaft des wilhelminischen Obrigkeitsstaats selbst „einer so starken, eigenmächtigen und illusionslosen Persönlichkeit wie Althoff“ Grenzen gesetzt waren.14 Althoffs Dilemma war es, eine außerordentlich moderne, zukunftsorientierte und freiheitliche Hochschul- und Wissenschaftspolitik in einem politisch und sozial retardierenden Gesellschaftssystem von „Untertanen“ mit den Mitteln des Obrigkeitsstaats verwirklichen zu müssen oder auch nur zu können. Daß er in einer Zeit, als der Liberalismus überall in Europa im Niedergang war, die Freiheit von Forschung und Lehre und ein freies tolerantes Klima an den Hochschulen verteidigt hat gegen eine politisch und sozial konservative Professorenschaft, gegen außeruniversitäre Einflüsse und Forderungen der Parteien, der Wirtschaft, der Kirchen, des Staats selber, macht ihn zu einem der bedeutendsten Vertreter des bürokratischen Liberalismus, zum größten Praktiker des preußischen Kulturstaatsgedankens. Und selbst sein schärfster Kritiker Max Weber, konnte nicht umhin anzuerkennen, als er 1911 in einer prinzipiellen Abrechnung mit dem „System Althoff“ vom sicheren Brot seiner außerpreußischen Professur in Heidelberg die Mittel und Methoden der preußischen Unterrichts Verwaltung als die denkbar rücksichtlosesten geißelte;15

„Es ist sehr schwierieg über diesen Mann zu sprechen. Er war nicht
nur ein wirklich guter Mensch im spezifischen Sinne des Wortes,
sondern er war ein Mann von sehr weiten Gesichtspunkten, [...] dem
die deutschen Universitäten Dinge verdanken, die in gewissem Sinne
unsterblich sind.“

Damit darf ich Ihnen am Schluß meine Antwort auf die eingangs gestellten Fragen geben. Warum alle Ehrungen Althoffs erst in den letzten Jahren und die Ehrung in Dinslaken erst heute? Spätestens seit Fritz Fischers Buch „Der Griff nach der Welttmacht. Über die Kriegszielpolitik des wilhelminischen Deutschland“ im Jahre 1961 ist das Kaiserreich in Verruf geraten. Und der Staat Preußen stand für viele lange Zeit unter dem Verdikt, mit dem die Siegermächte 1947 im Gesetz Nr. 46 des Alliierten Kontrollrats seine Auflösung dekretierten: „Der Staat Preußen, der seit jeher Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland gewesen ist, ... seine Zentralregierung und alle nachgeordneten Behörden werden hiermit aufgelöst.“

Seit längerem beginnt sich jedoch wieder eine differenziertere Sichtweise durchzusetzen. Preußen war der erste Flächenstaat, der die allgemeine Schulpflicht einführte. An seinen Gymnasien und hohen Schulen haben auch führende Sozialisten das wissenschaftliche Rüstzeug erworben, etwa Karl Marx auf dem Gymnasium in Trier und an der Universität Berlin. Preußen war auch nie nur eine Domäne ostelbischen Junkertums. Rheinischer und Westfälischer Bürgergeist haben diesen Staat nachhaltig geprägt neben den vielen Süddeutschen, die in preußische Dienste traten, neben Hugenotten und Salzburger Protestanten, die in Preußen als dem gelobten Land der Tolerenz Zuflucht vor religöser Verfolgung fanden.Althoff und seine Frau sind auf ihren Wunsch im Botanischen Garten inBerlin-Dahlem begraben. Auf das Grabmal hat Friedrich Althoff aus einervon ihm oft zitierten und wohl auf Augustin zurückgehenden Pandekten stelle des Corpus Juris „In necessariis unitas, in dubiis libertas, in Omnibus caritas" die drei letzten Worte setzen lassen. Aber auch ein weiteres Wort, das er oft im Munde führte, sollte nicht übersehen werden, die Worte, mit denen Vergil im sechsten Buche dtv Aeneis den Sendungsanspruch Roms zu klassischem Ausdruck brachte; sie hatte sich auch der junge Churchill zur Lebensmaxime gewählt: „parcere subiectis et debellare superbos“, die Anmaßenden und Übermütigen unterwerfen und die Unterworfenen zu schonen.16

Ich kann Ihnen, meine Damen und Herren der Stadt Dinslaken nur zu der Form gratulieren, in welcher Sie heute das Andenken eines großen Dinslakeners, Preußen und Deutschen würdigen.


  1. Vgl. den Überblick bei B. vom Brocke (1): Preußische Bildungspolitik von Gottfried Wilhelm Leibnizund Wilhelm von Humboldt bis Friedrich Althoff und Carl Heinrich Becker (1700-1930). In: W.Böhme (Hrsg.): Preußen -eine Herausforderung. (Herrenalber Texte, 32) Karlsruhe 1981, S. 54-99 gekürzte Fassung (b) in Deutsches Verwaltungsblatt mit Verwaltungsarchiv 96 (1981), 727-746; ferner die Beiträge von R. Vierhaus über W. von Humboldt B. Vogel über Altenstein, W. Treue über
    Schmidt-Ott und W. W. Wittwer über C. H. Becker, in: W. Treue/K. Gründer (Hrsg.): Berlinische Lebensbilder. Bd 3: Wissenschaftspolitik in Berlin: Minister, Beamte, Ratgeber. Berlin 1987.
  2. F. Althoff an Ludwig, 14.4.1904, Teilnachlaß Althoff (wie Anm. 1). -Gedicht zitiert bei A. Sachse (wie Anm. 1), S. 9. Vgl. auch F. Schmidt-Ott (wie Anm. 20), S. 101, 107.
  3. B. vom Brocke (wie Anm. 1), S. 40, 69ff. Einen eindrucksvollen Überblick gibt die Liste der 136 Unterzeichner des Spendenaufrufs zur „Friedrich-Althoff-Stiftung“ vom 16.1.1909 in Internationale Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 3(1909), Sp. 65-72,
  4. Vgl. die Schilderung seines vorletzten Referenten Dr. Ernst Eilsberger: „Ein Tag von Friedrich Althoffs Tätigkeit im Ministerium“ vom 23.12.1911, Manuskript im Teil-nachlaß Althoff (wie Anm. 1),15 S.: Auszüge bei A. Sachse (wie Anm. 1), S. 87-90.
  5. Kaiser Wilhelm II: Ereignisse und Gestalten aus den Jahren 1878 bis 1918. Leipzig 1922, S. 152.
  6. F. Paulsen: Friedrich Althoff Internationale Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik (1907), Sp. 967-978, hier Sp. 970; B. vom Brocke (wie Anm. I), S. 47.
  7. „Althoff und die Charite“, Der Vorwärts, Berlin, 24. Okt. 1908.
  8. Stenographische Protokolle des Preuß. Abgeordnetenhauses, 23.2.1905, Sp.10453-66; weitere Literatur bei B. vom Brocke (wie Anm. 10/a), S. 94f, und vom Brocke (wie Anm.55), S.528f
  9. W. Sombart: Althoff Neue Freie Presse (Wien), Nr. 15427 vom 4.8.1907, in Auszügen gedruckt bei B. vom Brocke (wie Anm. 1), S. 13f -Über Sombart-Althoff jetzt meine Einführung in Leben, Werk und Wirkung, in: Sombarts „Moderner Kapitalismus“.Materialien zur Kritik und Rezeption, hrsg. und eingel. von B. vom Brocke, (dtv Wissenschaftliche Reihe, 4453) München 1987, S. 11-65.
  10. A. Harnack (wie Anm. 31/a).
  11. B. vom Brocke: Der deutsch-amerikanische Professorenaustausch. Preußische Wissenschaftspolitik, internationale Wissenschaftsbeziehungen und die Anfänge einer deutschen auswärtigen Kulturpolitik vor dem Ersten Weltkrieg. Zeitschrift für Kulturaustausch 31(1981), 128-182, auch in: Interne Faktoren auswärtiger Kulturpolitik im 19. und 20. Jahrhundert. (Materialien zum Internationalen Kulturaustausch, 16) Stuttgart 1981.
  12. Der Ehrendoktor der Harvard-Universität. - National Zeitung (Berlin), Nr. 423 vom 12.7.1906. Der lateinische Text bei A. Sachse (wie Anm. 1), S. 63. Vgl. auch Ch. W. Eliot: Vorgeschichte des ersten Professorenaustausches und Gründung des Germanischen Museums in Cambridge. Bericht für Albert Bernhardt Faust [1910]. In: A. B. Faust: Das Deutschtum in den Vereinigten Staaten in seiner Bedeutung für die amerikanische Kultur. Leipzig 1912, S. 213-216; und: Ch. W. Eliot: Amerikas Dankesschuld an Deutschland. Nord und Süd 147 (1913), 11-13. -H. James: Charles illiam Eliot. 2Bde., Boston / New York 1930.
  13. J. W. Burgess: Persönliche Erinnerungen an Friedrich Althoff. Internationale Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 3(1909), Sp. 1337-1348.
  14. F. Schnabel (wie Anm. 6/c) S. 222.
  15. M. Weber: Verhandlungen des IV. Deutschen Hochschullehrertages zu Dresden am 12. und 13. Oktober 1911. Bericht erstattet vom Geschäftsführenden Ausschuß. Leipzig 1912, S. 66-77, hier S. 72.
  16. Belege bei B. vom Brocke: Hochschul- und Wissenschaftspolitik in Preußen und im Dt. Kaiserreich 1882-1907: Das „System Althoff‘. In: P. Baumgart (Hrsg.): Bildungspolitik in Preußen zur Zeit des Kaiserreichs. Berlin 1980, S. 9-118; hier S. 30. Immer noch unentbehrlich ist trotz fehlender Quellenangaben A. Sachse: Friedrich Althoff und sein Werk. Berlin 1928. S. 69. 257.